Ganz klar, auf den ersten Blick: lauter Unterschiede. Und wie könnte, wie sollte es auch anders sein, bei zwei Frauen, die, jede für sich, ihren eigenen Weg in den Beruf gegangen ist, einen Weg, der manchmal steinig, manchmal gewunden war: Der eine startet Mitte der Achtzigerjahre in der Nähe von Göttingen, der andere Anfang der Neunziger in Hannover. Der eine mit einer Ausbildung in einem kleinen Betrieb, der andere in einem großen Unternehmen.
Verschiedene Ausgangspunkte also, verschiedene Lebensläufe ― und doch: Eine Gemeinsamkeit gibt es zwischen Regina Ries und Theodora Suchy, zwischen diesen so starken, so unterschiedlichen Frauen: die Erfahrung des Wandels. Das Wissen, dass sich im Berufsleben vieles verändert. Und dass man irgendwie mit dem fortwährenden Wandel, der gerade dabei ist, sich in nie gekannter Weise zu beschleunigen, zurechtkommen muss.
Regina Ries zum Beispiel. 58 Jahre alt, blondes Haar, Rollkragenpulli, Jeans, eine Frau, die mit kräftiger Stimme vom Wandel erzählt: 1985 fing sie bei Wilvorst Herrenmoden eine Ausbildung als Bekleidungsfertigerin an. Das Unternehmen mit Sitz in Northeim bei Göttingen produziert seit über 100 Jahren festliche Herrenmode wie Hochzeitsanzüge, Smokings oder Fräcke.
Damals, als junge Auszubildende, saß Regina den gesamten Arbeitstag an der Nähmaschine, vor ihr stapelten sich Westen, niemals, das dachte sie, würde sie je etwas anderes tun als nähen. Aber dann, natürlich, hat sie doch in all den Jahren völlig Unterschiedliches getan: Sie war Springerin in der Produktion, Team-leiterin, Betriebsrätin ― und auch mal alles gleichzeitig. Sie musste flexibel sein, immer beweglich, sie musste sich viel Neues aneignen, Kommunikationsmethoden ebenso wie Nähtechniken.
Die Welt hat sich gewandelt
Noch heute springt die inzwischen freigestellte Betriebsratsvorsitzende in der Produktion ein, wenn Kolleginnen oder Kollegen krank sind oder Termine haben und sonst niemand aushelfen kann. Dann sitzt sie an der Nähmaschine, Blick nach vorne, Brille auf der Nasenspitze, und lässt die Nadel die Stoffnaht entlangrauschen. „Meine Leidenschaft ist das Nähen“, sagt Regina Ries. „Aber ich musste mich immer wieder auf Neues einstellen. Es geht nicht anders.“
Sich immer wieder mit Neuem auseinandersetzen, sich immerzu auf Unbekanntes einlassen ― das ist auch das, was das Berufsleben von Theodora Suchy von Anbeginn an geprägt hat und bis heute prägt.
1993 beginnt die heute 42-Jährige ihre Ausbildung bei Siemens in Hannover, heute ein reiner Vertriebsstandort mit einem Frauenanteil von 20 Prozent. „Kauffrau für Bürokommunikation“ heißt der Beruf, den Theodora Suchy wählt. Aber Bürokommunikation, das war damals noch etwas völlig anderes als es heute ist: Auf den Tischen standen damals große Faxgeräte, klobige Schreibmaschinen, nur ab und an ein Computer. Es gab Druckerräume, in denen nächtelang Druckaufträge abgearbeitet wurden und Tag für Tag ein Papierkrieg geführt wurde. „Die Welt damals war eine andere“, sagt Theodora Suchy. „Kein Vergleich zu heute.“
1993 beginnt Theodora Suchy ihre Ausbildung zur Kauffrau für Bürokommunikation bei Siemens in Hannover. „Die Welt damals war eine andere“, sagt die heute 42-Jährige.
In den ersten Jahren nach ihrer Ausbildung arbeitet Theodora Suchy als Teamassistentin für eine Abteilung von Servicetechnikern. Sie muss Reisekosten prüfen, Autos bestellen, sich um die Zulassung der Fahrzeuge kümmern, Schriftverkehr übernehmen. Alles Aufgaben, die auch heute erledigt werden müssen. Allerdings wurden sie mehr und mehr auf die einzelnen Servicetechniker übertragen. Und in immer größerem Maße von digitaler Technik ausgeführt ― zunehmend autonom. „Mit dem Wandel der technischen Möglichkeiten haben sich auch die Tätigkeiten gewandelt.“
Theodora Suchy arbeitet jetzt als Projektkauffrau im Kompetenzzentrum für Kunden der Reifenindustrie im In- und Ausland. Ihre Arbeit ist nicht mehr so, wie die sie einmal war ― die administrativen Tätigkeiten, oft monoton und wenig spannend, sind zurückgegangen, planende, kommunikative Aufgaben stehen im Vordergrund: „Ich muss Anfragen prüfen, ich muss recherchieren, ob eine Inbetriebnahme vor Ort beim Kunden im Ausland möglich ist, ich muss die Kosten im Blick behalten. Insgesamt ist meine Arbeit anspruchsvoller geworden“, sagt Theodora Suchy. „Als ich meine Ausbildung begann, gab es am Standort 3 600 Menschen, heute sind es 750.“
Dasselbe gilt für die Arbeit von Regina Ries und ihre Kolleginnen und Kollegen. In der Produktionshalle in Northeim ist die Luft warm, Bügeleisen dampfen, Nähmaschinen rattern, Laufzettel wandern von Tisch zu Tisch. Die Kolleginnen bei Wilvorst müssen ganz unterschiedliche Arbeitsgänge und Tätigkeiten beherrschen. Das gelingt, weil sich die Beschäftigten unterstützen, sich gegenseitig helfen. „Der Zusammenhalt in unserem Betrieb ist sehr hoch“, sagt Regina Ries. „Bei uns kann jede Kollegin so gut wie jeden Arbeitsschritt in ihrer Abteilung ausführen ― in fast der gesamten Produktion.“
Dabei wird auch bei Wilvorst die Arbeit immer komplexer: Die Palette an verschiedenen Stoffen, Schnitten, Mustern und Farben nimmt unvermindert zu ― genauso wie der Einsatz von Technik. Zweimal im Jahr gibt es neue Kollektionen, die Entwicklungszyklen werden kürzer, auch Maßanfertigungen gehören zum Angebot. Für die über 90 Beschäftigten in der Produktionshalle, 80 Prozent von ihnen sind Frauen, heißt das: in Akkordarbeit schnell und flexibel auf individuelle, vielfältiger werdende Kundenwünsche reagieren ― ob Sakkos mit Reversseide und Seitenschlitzen oder Westen in verschiedenen Mustern.
„Meine Leidenschaft ist das Nähen“: 1985 fing Regina Ries bei Wilvorst Herrenmoden eine Ausbildung an. Seitdem hat sich in ihrem Beruf viel verändert.
„Früher haben die Kolleginnen im Zuschnitt alles mithilfe von Sprühmaschinen und Pappschablonen markiert und dann mühsam per Hand mit einem Bandmesser ausgeschnitten“, erzählt Regina Ries. Heute werden die Daten der Schnittmuster samt Modellbeschreibung, Verarbeitungshinweisen und Materialvorkalkulation über eine CAD-Software eingepflegt, aufbereitet und der Produktion zur Verfügung gestellt. Die Beschäftigten am CNC-Cutter verbrauchen so durch geringen Teileabstand möglichst wenig Stoff und können die Schnittteile schnell an die Näherinnen weitergeben. Digitalisierung macht es möglich, mehr und mehr arbeitsintensive, sich wiederholende Aufgaben zu automatisieren.
In den Büros bei Siemens in Hannover vollzieht sich Digitalisierung seit vielen Jahren. Jetzt aber, erzählt Theodora Suchy, jetzt fühle es sich manchmal so an, als rolle eine Welle auf sie zu, die in ihrem Ausmaß noch nicht richtig zu fassen sei, die aber, das spüre man, so gewaltig sei, dass sie die Kraft habe, die Verhältnisse auf den Kopf zu stellen. „Digitale Technik hat nicht nur Auswirkungen auf die Produktionshallen, sie wandelt auch umfassend die Arbeit in den Büros, in denen vor allem Frauen arbeiten“, sagt die 42-Jährige. Sie merkt es am eigenen Arbeitsplatz, sie merkt es in anderen Abteilungen, etwa in der Auftragsabwicklung: Der Einsatz von digitaler Technik, der Einzug von Algorithmen und künstlicher Intelligenz in die Büros führt dazu, dass mehr und mehr Tätigkeiten automatisiert werden. Dass vor allem Routinearbeiten ersetzt werden.
Das muss nichts Schlimmes sein, im Gegenteil: Der Einsatz von digitaler Technik kann Chancen bieten, Entlastung bringen. Wenn Softwareprogramme mehr und mehr monotone, ständig sich wiederholende Tätigkeiten übernehmen, bleibt den Beschäftigten prinzipiell mehr Zeit für höherwertige Tätigkeiten.
Qualifizierung ist elementar
Das heißt aber auch: Die Beschäftigten müssen auf dem Weg in die digitale Arbeitswelt mitgenommen werden: Sie brauchen vor allem gute Aus- und Weiterbildungsangebote, sie brauchen nachhaltige Qualifizierung, die die Menschen befähigt, ihren Beitrag in einer neuen Arbeitswelt zu leisten. Dafür setzt sich die IG Metall mit ganzer Kraft in den Unternehmen. Ein Instrument dabei ist der Transformationsatlas, mit dem ein detaillierter Überblick über Ausmaß und Geschwindigkeit der Transformation in den Betrieben gegeben werden soll. Dazu gibt es Expertenkommissionen, auf tariflicher Ebene sowie in der politischen Arena. Kompetenzentwicklung wird zur elementaren Voraussetzung, ohne fortwährendes Lernen, ohne Qualifizierung ist der Wandel nicht zu meistern.
„Das ist uns völlig bewusst“, sagt Regina Ries. „Und das ist einer unserer großen Stärken. Wir achten in der Ausbildung und danach darauf, alle umfassend zu qualifizieren und am jeweiligen Arbeitsplatz entsprechend einzuarbeiten.“ Teilweise monatelang ― das ist wichtig, denn obwohl die Näherinnen und Näher weiterhin vorwiegend manuell arbeiten, bedienen sie sich doch zunehmend digitaler Technik. CNC-Cutter schneiden Hosenteile, Sakkos und Westen passgenau aus; Kolleginnen programmieren den Schneidkopf und die Abfolge der Aufträge am Computer. Drei bis vier Monate, erzählt Regina Ries, werden die jungen Kolleginnen angelernt, ehe sie einen Arbeitstag alleine bewältigen können.
Natürlich benötigen sie auch bei Siemens in Hannover gute Qualifizierung, dazu Möglichkeiten zur Weiterbildung, möglichst bevor Tätigkeiten wegbrechen, bevor Arbeitsplätze gestrichen werden. Um im digitalen Wandel aber zu bestehen, sagt Theodora Suchy, brauche es mehr. „Gezielte Personalentwicklung ist elementar, auf diesem Gebiet geschieht zu wenig.“ In allen Abteilungen müssten konkrete Qualifikationsanforderungen beschrieben, müssten neue Tätigkeitsprofile entwickelt werden ― und zwar schnellstmöglich.
„Die Kolleginnen und Kollegen müssen vorab wissen, wohin der Weg geht ― und vor allem müssen sie aufgezeigt bekommen, wie sie ihn sicher beschreiten können.“ Nur, wenn das geschieht, werden sie sich auf den Weg einlassen. „Nur dann werden sie diesen Wandel meistern können.“