Eisbär in der Wüste

Teamleiter Steffen Gerstenberg und seine Frau Friederike schaffen es seit einem Jahr, gleichberechtigt zu arbeiten – jeder 30 Stunden in der Woche. Auch Kinderbetreuung und Haushalt teilen sie sich. Um dahin zu kommen, brauchte es einen Antreiber – und Krisen.

1. Mai 20191. 5. 2019
Jens Knüttel


Ein Korsett ist meist eng und zwickt. Steffen Gers­tenberg will sich deshalb keines mehr anlegen lassen, keine gesellschaftlichen Erwartungen mehr seinen eigenen überordnen. Zusammen mit seiner Frau hat sich der 39-Jährige für einen „Sonderweg“ entschieden, wie er es nennt. Beide arbeiten gleichberechtigt. Konkret heißt das: Jeder 30 Stunden in der Woche im Beruf. Auch Kinderbetreuung und Haushalt teilen sie fair auf.

Das funktioniert gut für die beiden, seit einem Jahr. Bis dahin allerdings war es ein mühsamer Weg: „Ich hatte großen Respekt davor, in der Firma aus den gängigen Mus­tern auszuscheren“, erzählt der Metaller. Er ist Teamleiter in der Innovationsabteilung, zuständig für Sensortechnologien, bei Balluff im baden-württembergischen Neuhausen auf den Fildern. Eine Führungskraft mit reduzierter Stundenzahl ist auch im Jahr 2019 noch sehr ungewöhnlich. „Am Anfang habe ich daher ein schlechtes Gewissen gehabt und mich rausgeschlichen, damit es nicht so auffällt, dass ich weniger als andere in der Firma bin.“


Starker Antreiber

Steffen Gerstenberg spürte damals die Erwartungen im Betrieb, weiter aufsteigen zu sollen, und privat den finanziellen Druck durch einen Hauskauf bei gleichzeitig sinkendem Einkommen. Es dauerte, bis sich alles eingespielt hat.

Auch wenn er grundsätzlich immer offen für gleichberechtigtes Arbeiten war, brauchte es einen „starken Antreiber“, jemanden, der ihm aus dem Korsett half: seine Frau Friederike, eine promovierte Psychologin. „Hätte sie es nicht vorangetrieben, wäre ich wahrscheinlich in das normale gesellschaftliche Fahrwasser gekommen.“ Was der Metaller damit meint? „Der Mann arbeitet voll; die Frau hält ihm den Rücken frei, arbeitet eventuell halbtags und kümmert sich um Kinder und Haushalt.“

„Wir mussten viele Krisen durchmachen und reichlich Stress bewältigen. Ohne solche Krisen ist aber eine Weiterentwicklung gar nicht möglich.“

Die Gerstenbergs haben sich anders entschieden. Seither diskutieren, prüfen und verhandeln sie immer wieder, wie sie Familien- und Erwerbsarbeit am besten und fair aufteilen. Die Zeiten der beiden im Beruf sind so verteilt, dass ein Elternteil die Töchter ― drei und sechs Jahre alt ― mittags und nachmittags betreuen kann.

 

Die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben ist Steffen Gerstenberg wichtig.

Die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben ist Steffen Gerstenberg wichtig. (Foto: Thomas Kraut /Ars Cordis Werbeagentur)

 

Im Haushalt sind die Aufgaben ebenfalls klar zugeordnet: Steffen Gers­tenberg macht etwa die Wäsche oder kümmert sich ums Frühstück. Hinzu kommen Paarzeit, Sport oder Elternbeirat. Pufferphasen findet er deshalb besonders wichtig: »Manchmal weiß ich ja morgens nicht einmal, ob sich meine dreijährige Tochter mit oder ohne Schuhe ins Auto setzen lässt.« Der Koordinationsaufwand ist ohne familiäre Unterstützung in der Nähe hoch; eine lange Vorausplanung für alle Termine notwendig.

Bei alldem ist Steffen Gerstenberg eine respektvolle Partnerschaft wichtig: „Die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist Dauerthema bei uns im Haus.“ Das führte den zweifachen Familienvater auch zur IG Metall: Der Tarifvertrag in der Metall- und Elektroindustrie hat ihn restlos überzeugt: „Die Verbesserungen zur Vereinbarkeit von Leben und Erwerbstätigkeit haben mich sehr beeindruckt.“


Starke Unterstützung

Der Leiter eines Teams, zu dem fünf Festangestellte und vier Studierende zählen, betont: „So wie wir leben wollen, hat das natürlich auch Auswirkungen auf meine Arbeit in der Firma.“ Mit allen Konsequenzen. Dazu gehört es auch, dem Vorgesetzten mal Nein zu sagen. Dazu gehört es auch, sich in Besprechungen vertreten zu lassen und darauf zu vertrauen, dass die eigenen Interessen berücksichtigt werden. Dazu gehört es, Lücken im Terminkalender zu lassen, um Freiraum für kreative Ideen zu haben. „Mein Chef unterstützt mich dabei sehr“, sagt Steffen Gerstenberg. „Am Ende zählt ja die Leistung und nicht, wie lange eine Führungskraft an einem Projekt gearbeitet hat.“

Wegen seiner reduzierten Anwesenheit in der Firma beschäftigt sich der Metaller mit zwei Fragen: „Welche Aktivitäten oder Besprechungen hätte ich mir heute sparen können oder vom Zeitaufwand reduzieren sollen?“ Und: „Was ist der Kern meiner Tätigkeit, was kann ich weglassen und auf was sollte ich mich konzentrieren, damit wir als Team erfolgreich sind?“ Seine Rolle im Team sieht der 39-Jährige als Begleiter, er arbeitet dabei mit agilen Methoden: Es gibt reichlich Freiräume, Feedback, Teamentwicklung, allerdings auch klare Zielvorgaben. „Jeder meiner Mitarbeiter arbeitet dabei so viel in der Firma, wie dies bei ihm in die Lebensphase passt.“ Gerstenberg macht es eben als Führungskraft mit reduzierter Stundenzahl vor.


Wenige Vorbilder

Dass ihm das die Zuschreibung „Eisbär in der Wüste“ einbringen würde, hat ihn überrascht. Die Zweite Vorsitzende der IG Metall, Christiane Benner, bezeichnete in der metallzeitung Führungskräfte in Teilzeit überspitzt mal so, weil sie nach wie vor überaus selten in der Wirtschaft sind. Steffen Gerstenberg schrieb ihr daraufhin in einer charmanten Mail: „Hallo Christiane, ... ich bin der Eisbär in der Wüste.“

Der 39-Jährige weiß, dass er Glück hat, in Verhältnissen zu leben, die es möglich machen, weniger zu arbeiten und mehr Zeit zum Leben zu haben. Der Metaller will aber keinesfalls ― und das ist ihm ganz wichtig ― den Eindruck aufkommen lassen, als fiele seiner Familie und ihm alles zu: „Wir mussten viele Krisen durchmachen, reichlich Stress bewältigen. Ohne solche Krisen aber ist eine Weiterentwicklung gar nicht möglich. Wo wir jetzt stehen, das ist das Ergebnis der letzten Jahre und der Prozess geht kontinuierlich weiter.“

Leider gebe es noch viel zu wenig Vorbilder, an denen man sich orientieren könne, sagt er. „Darum haben meine Frau und ich alles individuell für uns entscheiden und regeln müssen.“ Die Gerstenbergs jedenfalls haben es geschafft, so sehen sie es, ein gesellschaftliches Korsett abzulegen.

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