Urteil stärkt Meinungsfreiheit für Arbeitnehmer
Sieg für Zivilcourage

Brigitte Heinisch prangerte die massiven Missstände an ihrem Arbeitsplatz an, plädierte für eine menschenwürdige Pflege und wurde dafür von ihrem Arbeitgeber fristlos gekündigt. Zu Unrecht – wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte jetzt urteilte.

22. Juli 201122. 7. 2011


Nach jahrelangem Kampf ist die Altenpflegerin Brigitte Heinisch rehabilitiert. Weil Sie für menschenwürdige Pflege plädierte. Und weil sie den Mut hatte, die massiven Missstände an ihrem Arbeitsplatz öffentlich zu machen, verlor sie Ihren Job. Ihre fristlose Kündigung verstößt gegen die Menschenrechtskonvention. Das entschied jetzt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.

Menschenunwürdige Zustände
Brigitte Heinisch handelte aus voller Überzeugung. Bei ihrer Arbeit in einem Berliner Altenheim der Vivantes GmbH hatten Zustände geherrscht, die sie nicht hinnehmen und auch nicht verantworten wollte. Wund gelegene Hilfsbedürftige, die teils stundenlang nicht versorgt wurden, zu wenig Zeit für alte Menschen, die sich allein nicht mehr helfen können. Ihrer Ansicht nach hatte der Klinikbetreiber Vivantes zu wenig Personal und war daher nicht in der Lage, die Bewohner eines Pflegeheims ausreichend zu versorgen. Auch der Medizinische Dienst der Krankenkassen hatte bei einem Kontrollbesuch wesentliche Mängel in der Pflege festgestellt. Als Brigitte Heinisch mit internen Beschwerden nicht weiterkam, erstattete sie im Dezember 2004 schließlich Strafanzeige gegen ihren Arbeitgeber. Dafür erhielt sie die fristlose Kündigung.

Die deutschen Gerichte bestätigten die Kündigung. Brigitte Heinisch habe ihre Loyalitätspflicht verletzt und ihre Anschuldigungen leichtfertig erhoben, so die Begründung. Und bekamen dafür jetzt die „Rote Karte“.

Ein wegweisendes Urteil
Das Menschenrechtsgericht sprang der Altenpflegerin nun bei. Deutschland habe mit der Akzeptanz der Kündigung gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung und damit gegen die Menschenrechtskonvention verstoßen, entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrecht. Die Straßburger Richter argumentierten unter andere, die Öffentlichkeit habe ein großes Interesse daran, über Mängel in der Altenpflege Bescheid zu wissen: Dieses sei wichtiger als das Interesse des Unternehmens an seinem guten Ruf und dem geschäftlichen Erfolg. Das Gericht verurteile den deutschen Staat zu 15.000 Euro Schmerzensgeld und zur Prozesskostenübernahme.

Zivilcourage muss geschützt werden
Der Gerichtshof stärkt mit seinem Urteil all jene, die bislang aus Angst vor Repressalien durch Umfeld und Arbeitgeber über Missstände schwiegen. Sogenannte „Whistleblower“ – also Arbeitnehmer, die Missstände am Arbeitsplatz öffentlich machen – müssen geschützt werden, wenn ihr Anliegen sachlich gerechtfertigt ist und der Arbeitgeber trotz Beschwerde keine Abhilfe schafft. Die Gewerkschaften forderten eine gesetzliche Regelung. „Durch die Straßburger Entscheidung werden die Deutschen Gerichte zu Recht deutlich korrigiert. Es ist doch absurd, verantwortungsvolles Handeln und Zivilcourage mit einer fristlosen Kündigung zu quittieren.“, sagte Thomas Klebe, Justitiar der IG Metall, gegenüber der Onlineredaktion.

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