Warum er heute auf die Straße geht und protestiert? Nicolas Fechler kommt die Frage etwas seltsam vor. „Wir wollen unsere Arbeitsplätze erhalten, unsere Zukunft sichern!“, sagt der Metaller, der mit Blaumann, roter Schirmmütze und 16 000 Kolleginnen und Kollegen vor dem ThyssenKrupp-Werk in Duisburg steht.
Fechler hat noch viel Zukunft vor sich. Er ist 25, arbeitet als Elektriker bei ThyssenKrupp. Betriebsklima und Arbeitsbedingungen seien gut. „Am liebsten würde ich bis zur Rente dort arbeiten“, sagt er. Doch ob ihm das vergönnt sein wird, steht in den Sternen.
Die Stahlindustrie erlebt ein schicksalhaftes Jahr
China drängt mit Dumping-Importen auf den europäischen Markt. Die Stahlpreise sind im Keller. Dazu droht Gefahr aus Brüssel: Die EU-Kommission will den Handel mit sogenannten CO2-Zertifikaten massiv verschärfen. Selbst die effizientesten Stahlwerke müssten dann teure Emissionsrechte kaufen. Die Zusatzbelastung läge bei rund einer Milliarde Euro pro Jahr. Das entspricht in etwa dem, was die gesamte Branche in Deutschland pro Jahr investiert.
Und: Die Eigenstromerzeugung der Stahlunternehmen könnte schon bald mit der EEG-Umlage belastet werden. All diese Zutaten ergeben einen Cocktail, der der Stahlindustrie den Garaus machen könnte.
Zehntausende demonstrieren für den Stahl
Die Beschäftigten haben also allen Grund, ihre Existenzängste auf die Straße zu tragen. Nicht nur in Duisburg wird demonstriert. Im ganzen Bundesgebiet beteiligen sich Belegschaften am Stahl-Aktionstag der IG Metall: In Berlin sind 2500 Stahl-Beschäftigte vor das Bundeskanzleramt gezogen. Im Saarland protestieren mehr als 20 000. Auch in Thüringen, Hessen, Baden und Bayern gibt es zahlreiche Demonstrationen.
In Salzgitter kamen bereits am vergangenen Donnerstag über 4000 Beschäftigte zu einer Protest-Kundgebung.
Was genau passieren muss, um die Stahlindustrie zu erhalten, macht Jörg Hofmann in seiner Rede klar: „Keine Vernichtung von Arbeitsplätzen in Europa durch staatlich gestützte Dumpingangebote aus anderen Weltregionen! Klimapolitische Ziele dürfen nicht zu ruinösen Kostenbelastungen führen! Die Eigenstromnutzung muss belastungsfrei bleiben!“
Nur wenn diese drei Kernforderungen umgesetzt würden, könne die Stahlindustrie langfristig überleben, erklärt der Erste Vorsitzende der IG Metall. „Die Industrie hat ein Herz aus Stahl, das muss weiter schlagen.“ Den Stahl-Beschäftigten ruft er zu: „Ihr könnt euch auf die Solidarität eurer IG Metall verlassen.“
Anspannung und Kampfbereitschaft
In Duisburg ist die Anspannung an diesem Montag spürbar. „Wenn die EU ihre Pläne umsetzt, verlieren wir wohl unsere Jobs“, sagt Eva Brychcy vom Edelstahlproduzenten Outokumpu Nirosta in Krefeld. Für die 58-Jährige wäre das ein Schock – wenige Jahre vor der Rente. Doch kampflos will sie nicht abtreten; „Ich bin heute hier, um gemeinsam etwas zu bewegen“, sagt sie.
85 000 Beschäftigte arbeiten in der deutschen Stahlindustrie. Allein in Duisburg, dem größten Stahl-Standort Europas, sind es rund 20 000. Für Regionen wie das Ruhrgebiet oder das Saarland ist das Überleben der Stahlindustrie eine existenzielle Frage. Dort gibt die Branche 22 000 Menschen Arbeit – und an jedem Stahl-Job hängen bis zu sechs weitere Arbeitsplätze.
Bedeutung für die ganze Industrie
Doch die Bedeutung des Industriezweigs geht weit über die eigene Branche hinaus. Industrielle Kernbereiche wie der Auto- und der Maschinenbau sind eng mit der Stahlindustrie verzahnt. Sie profitieren von räumlicher Nähe und technologischer Zusammenarbeit. Auch sie würde ein Aus der Stahl-Betriebe teuer zu stehen kommen.
Vor dem Kanzleramt fordert Jürgen Kerner, Hauptkassierer der IG Metall, ein konkretes Bekenntnis der Politiker: „Setzen Sie sich persönlich für unsere Stahlindustrie ein – ohne Wenn und Aber!“
Die Gefahren, die der Branche drohen, haben die Politik aufhorchen lassen. Beim Stahl-Aktionstag sprechen auch Wirtschaftsminister und Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD), Hannelore Kraft (SPD), Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen, und Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU). Alle versichern ihre Unterstützung.
Wenn aus ihren Worten Taten werden, dann kann sich auch der 25-Jährige Elektriker Nicolas Fechler wieder Hoffnung auf eine sichere Zukunft machen.