Wer wissen will, warum in dieser Woche quer durch Deutschland Stahl-Beschäftigte auf die Straße gehen, der sollte mit Stephan Ahr sprechen. Der 49-Jährige ist Betriebsratsvorsitzender bei Saarstahl in Völklingen. Und er weiß genau, was seine Kollegen umtreibt: „Sie fürchten um den Fortbestand ihrer Betriebe. Sie warnen vor dem staatlich verordneten Sterben einer wichtigen Grundstoffindustrie.“
Das Anliegen eint die Belegschaften, die an der IG Metall-Aktionswoche „Stahl ist Zukunft“ teilnehmen: Ob an den Stahl-Standorten im Saarland, in Duisburg, in Eisenhüttenstadt, Salzgitter oder Bremen. Ihre Kritik richtet sich gegen Pläne der EU-Kommission. Es geht um den sogenannten Emissionshandel. Nach diesem System müssen Betriebe, die CO2 ausstoßen, dafür Zertifikate kaufen. So entsteht ein Anreiz, den Ausstoß des Klimagases zu verringern.
Brüssel will diesen Emissionshandel nun drastisch verschärfen, das Angebot an CO2-Zertifikaten verknappen. Das bedeutet allein für die deutsche Stahlindustrie Zusatzkosten von einer Milliarde Euro im Jahr. „Die EU-Pläne machen das Überleben der Stahlindustrie praktisch unmöglich“, sagt Stephan Ahr. Rund 85 000 Arbeitsplätze sind damit gefährdet.
Fataler Effekt
Die Situation ist paradox: Die EU will mit den verschärften Emissionsregeln zum Klimaschutz beitragen. Am Ende könnte aber genau das Gegenteil eintreten: Die Reform könnte den CO2-Ausstoß weltweit sogar erhöhen.
Der Mechanismus ist simpel: Lassen sich Stahlwerke in Europa nicht mehr wirtschaftlich betreiben, dann werden sie früher oder später schließen. Stahl wird aber weiterhin gebraucht. Europa müsste seinen Bedarf dann komplett über Importe decken – zum Beispiel aus China, dem weltweit größten Stahlproduzenten. Chinesischer Stahl belastet das Klima jedoch viel stärker als europäischer.
„In Deutschland fallen für eine produzierte Tonne Stahl 1,5 Tonnen CO2 an. In China sind es 1,8 Tonnen“, erklärt Heiko Reese, der Leiter des IG Metall-Stahlbüros. „Wir haben in Deutschland und Europa die weltweit effizientesten Anlagen zur Stahlerzeugung.“ Die deutsche Stahlindustrie habe den CO2-Ausstoß in den vergangen 20 Jahren um rund 20 Prozent verringert.
Technischer Fortschritt
Die Reduzierung der Emissionen ist möglich, weil die Stahlindustrie ständig in neue Technologien investiert. Ein Beispiel: Bei der Stahlproduktion werden brennbare Gase freigesetzt, sogenannte Kuppelgase. Früher wurden diese Gase einfach abgefackelt.
Heute nutzen sie die Unternehmen in werkseigenen Kraftwerken zur Stromerzeugung. Bei Saarstahl läuft seit einigen Jahren ein Gichtgas-Kraftwerk, das die Öfen im Walzwerk beheizt.
Solche technischen Fortschritte stehen durch die EU-Pläne auf der Kippe. Eine Milliarde Euro Zusatzkosten pro Jahr – das entspricht dem Investitionsvolumen der gesamten deutschen Stahlindustrie. Für Forschung und Entwicklung bliebe nichts mehr übrig.
Unter Feuer
Die EU-Pläne kommen für die Stahlindustrie zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Die Branche steckt ohnehin in einer schwierigen Lage. Grund dafür sind chinesische Billigimporte. Die Einfuhr von Stahl aus China in die EU hat sich seit 2010 verdoppelt.
Von fairem Wettbewerb kann dabei kaum die Rede sein: Die Stahlproduktion wird in China staatlich subventioniert. Das Land wirft seinen Stahl zu Preisen auf den Markt, die vielfach nicht einmal die Herstellungskosten abdecken. Auch gegen diese Praxis wendet sich die Aktionswoche „Stahl ist Zukunft“.
Der europäischen Stahlindustrie im internationalen Wettbewerb eine Chance geben – das ist die Forderung sowohl der IG Metall als auch der Wirtschaftsvereinigung Stahl. In einer gemeinsamen Erklärung heißt es: Um die Abwanderung der Stahlindustrie zu verhindern, müssten „die zehn Prozent CO2-effizientesten Anlagen der Branche eine vollständig kostenfreie Zuteilung der Emissionsrechte (“Zertifikate„) erhalten“. Damit würden die Bemühungen um eine klimaschonende Produktion anerkannt.
Stephan Ahr, der Betriebsratschef von Saarstahl, hat seine eigene Formulierung für das, was auf dem Spiel steht: „Neben unserem Stahlwerk kann man leben. Das geht in China eher nicht.“