Früher war „mehr Lametta“ – zumindest war das Weihnachten bei Loriots Familie Hoppenstedt so. Anfang der 1980er Jahre hatte Vater Hoppenstedt in dem Metallbetrieb, wo er arbeitete, eine tarifvertragliche Arbeitszeit von 40 Stunden in der Woche, in der Regel von Montag bis Freitag acht Stunden täglich.
Heute hat Hoppenstedt die 35-Stunden-Woche und ein Arbeitszeitkonto. Seine Soll-Arbeitszeit beträgt von Montag bis Freitag täglich sieben Stunden. Alles, was darüber hinaus geht, wandert aufs Konto, das maximal 100 Stunden Plus aufweisen darf und maximal 50 Stunden Minus. So regelt das die Betriebsvereinbarung.
Dem Arbeitszeitverfall auf der Spur
Das ermöglicht Hoppenstedt, jetzt wesentlich flexibler zu arbeiten – wenn’s sein muss, auch mal länger oder samstags. Dadurch kommt Hoppenstedt in der Woche im Schnitt auf 3,6 Stunden mehr, die er auf seinem Arbeitszeitkonto bunkert – für eventuell schlechte Zeiten wie in der Krise 2009. Dort sammeln sich die Stunden und liegen unbezahlt herum. Ein wahres Geschenk an den Arbeitgeber. Bei einem Stundenlohn von 16,75 Euro, wie ihn Hoppenstedt hat, sind das bei 3,6 Plus-Stunden mal 46 Wochen im Jahr (52 minus sechs Wochen Urlaub) brutto 2773,60 Euro. Und das ohne Mehrarbeitszuschläge von 25 Prozent. Das wären noch mal 693 Euro oben drauf. Doch Arbeitszeitkonten kennen keine bezahlte Mehrarbeit.
Aber es kommt noch dicker: Erfolgt kein Zeitausgleich, hat Hoppenstedt nach zwölf Monaten zwar ein prall gefülltes Konto von 165 Stunden. Davon bleiben ihm aber lediglich nur 100 Stunden. Denn sobald die 100-Stunden-Schwelle überschritten wird, wird alles gekappt und der Rest verfällt. Der Preis dafür: 1088,75 Euro. Das sind die 65 gekappten Stunden mal 16,75 Euro Stundenlohn. Will aber Hoppenstedt von seinem prall gefüllten Konto für sich persönlich ein paar Stunden „abheben“, muss er das extra bei seinem Abteilungsleiter ankündigen und bewilligen lassen.
Jetzt könnte man fragen, warum Hoppenstedt so viel umsonst arbeitet und seinem Arbeitgeber Zeit und Geld schenkt. Es ist der Leistungsdruck, der ihn dazu zwingt. Auf seine alten Tage begleitet Hoppenstedt einen verantwortungsvollen Job. Er muss sich deutlich mehr anstrengen, um das Pensum zu schaffen und die Projekte gut zu Ende zu bringen. Hoppenstedts Verhalten ist kein Einzelfall, sondern „normal“ und in Deutschland gängige Praxis.
Meine Zeit gehört mir
Im Durchschnitt haben Vollzeitbeschäftigte nach Tarif eine wöchentliche Arbeitszeit von 37,7 Stunden. In der westdeutschen Metallindustrie sind es sogar nur 35 Stunden. Tatsächlich aber arbeiten die Menschen wesentlich länger. Im Jahr 2014 machte jeder im Durchschnitt knapp 49 Überstunden – davon waren 27,8 Stunden ohne Gegenleistung in Form von Geld oder Freizeitausgleich.
Wunsch und Wirklichkeit liegen bei den Arbeitszeiten oft erheblich auseinander, offenbarte der DGB-Index Gute Arbeit 2014. Dabei würden Teilzeitbeschäftigte gerne etwas länger und Vollzeitbeschäftigte lieber etwas weniger arbeiten. Doch Stress und Zeitdruck zwingt die meisten dazu, länger im Betrieb zu bleiben. Die IG Metall kam bei ihrer Beschäftigtenumfrage auf ähnliche Ergebnisse: Die Menschen sind zwar bereit, sich flexibel auf betriebliche Erfordernisse einzustellen und können damit auch in hohem Maße umgehen. Allerdings drohen dabei ihre privaten Interessen, aber auch ihre Gesundheit auf der Strecke zu bleiben. Für ihren flexiblen Einsatz erwarten sie von ihrem Arbeitgeber eine Gegenleistung – am liebsten in Form von Freizeit.
Für eine neue Kultur der Arbeitszeit
Die Beschäftigten wollen flexibel und selbstbestimmt Arbeit und Leben vereinbaren können. Und sie wollen, dass jede Stunde zählt und nicht verfällt. Für die IG Metall deshalb höchste Zeit, über die Arbeitszeit zu reden und das Thema Vereinbarkeit stärker in den Fokus zu rücken. Der IG Metall-Tarifpolitiker Stefan Schaumburg plädiert für eine neue Kultur der Arbeitszeit. Vorstellbar wäre ein Modell einer „verkürzten Vollarbeitszeit“ – für alle Beschäftigten, die beispielsweise Kinder betreuen, sich fortbilden oder Pflegefälle haben.
Eine neue Kultur der Arbeitszeit erfordert aber auch eine neue Definition der Arbeitszeitkonten. Zeit ist ein kostbares Gut und jede geleistete Stunde hat ihren Wert, die sich in der Summe zu einem kleinen Vermögen entwickeln kann – wie das Beispiel Hoppenstedt zeigt. Menschen mit Arbeitszeitkonten wollen über ihr Zeitvermögen selbst verfügen und entscheiden können, wann sie ihre wertvolle Zeit nutzen. Deshalb muss grundsätzlich gelten: Alle Arbeitszeiten gehören erfasst und bezahlt, nichts darf verfallen.
Die IG Metall hat über eine halbe Million Beschäftigte befragt. Das Ergebnis zur Arbeitszeit war eindeutig: Flexible Arbeitszeiten JA, aber nicht nur einseitig zugunsten der Betriebe. Die Mehrheit wünscht sich mehr Zeitsouveränität und Arbeitszeitmodelle, die auch auf ihre Bedürfnisse und Lebensphasen Rücksicht nehmen.