Es ist jetzt laut, irrsinnig laut: Trillerpfeifen trillern schrill, da drüben stehen eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen, die schwungvoll auf Plastiktonnen eintrommeln, ein dumpfer, treibender Rhythmus, von weiter hinten wehen Sprechchöre heran. Ronald Thiel, 40 Jahre, blonde, kurze Haare, steht mittendrin, mitten im Lärm, mitten im Trubel, mit heiserer Stimme und leuchtenden Augen. Er ist heute früh am Morgen aufgestanden, um von Görlitz nach Berlin zu fahren, zur Demonstration, zu seinen Kolleginnen und Kollegen, irrsinnig wichtig ist es, sagt er, es geht um die Existenz: „Wir haben immer alles für Siemens getan, wir haben immer die Füße still gehalten und alles getan, was der Konzern wollte“, sagt Ronald Thiel. „Und jetzt sollen wir einfach abgespeist werden, jetzt sollen Arbeitsplätze und Standorte vernichtet werden, einfach, weil irgendwelche Zahlen nicht mehr stimmen. Das geht nicht. Wir werden dagegen kämpfen. Entschlossen und solidarisch.“
Diese Entschlossenheit, diese Solidarität, die ist schon früher am Morgen zu spüren: 6.15 Uhr, Motardstraße, Berlin Spandau, direkt neben der „Siemensstadt“. Letzte Vorbereitungen, gleich geht es los: 173 Autos, 7 Motorräder, rund 500 Menschen machen sich in einem Autokorso auf den Weg quer durch Berlin zur Sonnenallee, Beschäftigte aus den Siemens-Betrieben sind dabei, Kolleginnen und Kollegen aus Leipzig, aus Görlitz, aus vielen weiteren Siemens-Standorten. Sie alle sind wütend, aufgebracht, in Sorge, entschlossen, kampfesmutig. Manchmal alles hintereinander, manchmal alles zusammen. Sie alle sind fassungslos über das, was das Siemens-Management angekündigt hat. Was jetzt mit ihnen geschehen soll.
Gerade der Osten Deutschlands wäre in hohem Maß betroffen
Vor zwei Wochen kam er, der Paukenschlag, der Nackenschlag, die kalte Ankündigung aus der Konzernzentrale in München: Wegen Problemen in der Kraftwerks- und in der Antriebssparte, so verkündete es das Management, wolle Siemens weltweit rund 6900 Arbeitsplätze streichen, davon etwa die Hälfte in Deutschland.
Personalchefin Janina Kugel schließt dabei auch betriebsbedingte Kündigungen nicht aus. Klar ist aber: Das Abkommen „Radolfzell II“ von 2010 schließt betriebsbedingte Kündigungen grundsätzlich aus, es sei denn, der Konzern befindet sich in einer „existenzbedrohenden Krise“. Dem Unternehmen aber geht es gut – allen im abgelaufenen Geschäftsjahr hat Siemens einen Gewinn von 6,2 Milliarden Euro gemacht. Klar ist deshalb auch: Die von Janina Kugel explizit nicht ausgeschlossene betriebsbedingte Kündigungen sind für die IG Metall in keiner Weise hinnehmbar.
Gerade den Osten Deutschlands treffen Stellenabbau und Standortschließungen in hohem Maße: Die Siemenswerke in Leipzig mit 270 Beschäftigten und in Görlitz mit rund 1.000 Beschäftigten sollen geschlossen werden. Im Berliner Gasturbinenwerk will Siemens 300 Arbeitsplätze abbauen. Im Dynamowerk in Berlin will der Konzern die gesamte Fertigung mit 700 Beschäftigten schließen. Nur das Engineering soll bleiben.
Massiver Angriff auf Jobs und Standorte inakzeptabel
Auch der Standorte in Offenbach steht vor dem Aus. Für ein Werk in Erfurt prüft Siemens zudem mehrere Optionen, darunter auch einen Verkauf. „Dieser massive Angriff auf Jobs und Standorte von Siemens in Deutschland ist inakzeptabel. Gerade ein Unternehmen wie Siemens muss wirtschaftliche Durststrecken in einzelnen Geschäftsfeldern auch aushalten können. Schließlich wurden gerade wieder Rekordgewinne verkündet“, sagt Jürgen Kerner, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall und Siemens-Aufsichtsrat.
Die Pläne sind, anders lässt es sich nicht sagen, ein angekündigter Kahlschlag, gegen den seither bundesweit die Beschäftigten von Siemens protestieren, in Erfurt ebenso wie beispielsweise in Offenbach – und die Kundgebung an diesem Novembermorgen in Berlin, zu der 2500 Beschäftigte kamen, war ein starkes Zeichen der Geschlossenheit und des Zusammenhalts. „Siemens wurde vor 170 Jahren in Berlin gegründet und gehört zu unserer Industriestadt“, sagt Klaus Abel, der Erste Bevollmächtigte der IG Metall Berlin. „Siemens hat die Pflicht, in die Zukunft zu investieren.“ Ronald Thiel vom Siemenswerk-Görlitz sieht das ganz genauso. „Wir werden weiter gegen den angekündigten Stellenabbau demonstrieren. Schließungen sind für uns nicht akzeptabel. Wir werden nicht locker lassen.“
Keine Basis für Verhandlungen
Das versprechen an diesem Vormittag alle Redner auf der zentralen Kundgebung vor dem Hotel Estrel in Berlin, bei der auch Gäste aus der Politik dabei sind, unter anderem SPD-Chef Martin Schulz. „Wir erwarten, dass die Menschen bei der Gestaltung des anstehenden Wandels aktiv mitgenommen werden. Sich von der Börse feiern zu lassen und zugleich mit den Existenzen vieler Menschen zu spielen, das ist respektlos und geht gar nicht“, sagt Jürgen Kerner. Vergangene Appelle der Arbeitnehmerseite, das Unternehmen für die Zukunft wetterfest zu machen, seien ignoriert worden. Nun falle dem Management nichts Besseres ein, als an der Personalkostenschraube zu drehen.
Auch Birgit Steinborn, Vorsitzendes des Gesamtbetriebsrates von Siemens, betont das: „Standortschließungen und scheinbar alternativloser Stellenabbau sind keine Lösung und schon gar keine Basis für Verhandlungen“, sagte sie in ihrer Rede.
„Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen, Herr Kaeser.“
Olivier Höbel, Bezirksleiter der IG Metall Berlin-Brandenburg-Sachsen verwies darauf, dass die Siemens-Beschäftigten volle Leistung abgeliefert hätten, um alle Aufträge schnell und mit höchster Qualität abzuschließen. „Jetzt ist Siemens gefordert, Perspektiven für Beschäftigung aufzuzeigen, statt Belegschaften abzuwickeln.“ Und weiter: „Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen, Herr Kaeser. Sie sind Mitglied der Eliten in unserem Land, von denen Sie Verantwortung eingefordert haben. Übernehmen Sie jetzt die notwendige Verantwortung statt die Zivilgesellschaft und ostdeutsche Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit zu schädigen.“
Zukunftsweisende und langfristige Standortkonzepte
Für Jörg Hofmann ist klar, dass die IG Metall fest an der Seite der Siemens-Beschäftigten steht. „Wir werden die Kolleginnen und Kollegen nicht ihrem Schicksal überlassen. Betriebsbedingte Kündigungen, die Schließung oder den Verkauf ganzer Standorte werden wir nicht akzeptieren“, sagt der Erste Vorsitzende der IG Metall. „Wir wollen die Kraftwerks- und Fertigungstechnologie in Deutschland erhalten. Wir brauchen zukunftsweisende und langfristige Standortkonzepte. Wir baden doch nicht die Kurzsichtigkeit des Managements aus“, so Jörg Hofmann.