Du hast bald ein 60-Jahres-Jubiläum. Weißt Du, welches?
Norbert Blüm: Klar. So lange bin ich in der IG Metall.
Du bist schon mit 15 Jahren eingetreten, als Azubi bei Opel in Rüsselsheim.
Blüm: Ich bin damals mit vier Pfadfindern zur Jugendvertreterwahl angetreten – gegen dieKonkurrenz von der DGB-Jugend. Wir gewannen alle fünf Sitze. Aber nach kurzer Zeit stellte ich fest, dass Jugendvertretung kein Geländespiel ist. Dafür braucht man Wissen über Tarifverträge, Arbeitsrecht und vieles mehr. Darum bin ich in die IG Metall eingetreten.
Und wie stehst Du heute dazu?
Blüm: In der Gewerkschaft zu sein, finde ich wichtiger denn je. Arbeitnehmer sind zunehmend Figuren auf dem Mensch-ärgeredich- nicht-Spiel des Kapitalismus. Unternehmen degenerieren zu Kapitalsammelstellen und Menschen zu auswechselbaren Ersatzteilen. Das Kapital ist stärker und globaler geworden. Ein Gleichgewicht kann erst wieder entstehen, wenn auch die Gewerkschaften stärker werden.
Du bist einer der Schirmherren der IG Metall-Initiative „Gleiche Arbeit – gleichesGeld“.Warum?
Blüm: Was für eine Frage! Weil ich den Sozialstaat verteidige. Die Stammbelegschaften arbeiten unter Druck, weil sie Angst haben, durch Leiharbeitnehmer ersetzt zu werden. Junge Leute, die von Leiharbeit leben, trauen sich nicht, eine Familie zu gründen, weil sie kein gesichertes Einkommen und keine kalkulierbare Zukunft haben. Und schlecht bezahlte Jobs ruinieren die Sozialversicherung: Aus Hungerlöhnen können auch nur Hungerrenten entstehen.
Wenn der Sozialstaat nicht einspringen würde.
Blüm: Der Sozialstaat ist nicht die Reparaturschlosserei der Wirtschaft, nicht das Alibi für wirtschaftliches Versagen. Er soll zum Beispiel Hungerlöhne nicht aufstocken, sondern verhindern.
Du warst 1982 bis 1998 Bundesminister. Was war damals anders bei der Leiharbeit?
Blüm: Sie war die Ausnahme. Aber aus der Ausnahme wurde die Regel und aus der Regel wurden Arbeitsplätze zweiter Klasse. Damals war Leiharbeit zeitlich begrenzt. Erst die Regierung Schröder hat alle Bremsklötze weggehauen.
Die ersten Klötze verschwanden, als Du Minister warst: Die Einsatzzeit wurde ausgeweitet.
Blüm: Da sage ich jetzt, das war falsch. Ich hatte geglaubt, befristete Einsätze sind eine Brücke zu unbefristeter Arbeit. Ist man erst mal im Betrieb, ist es leichter, auch drin zu bleiben. Diese Annahme hat sich als falsch erwiesen. Leiharbeit führt nicht zur Festanstellung, sondern zum Wechsel der Stammbelegschaft in Leiharbeit. Aber der eigentliche Dammbruch kam später. Er fing damit an, dass die Schröder-Regierung unbegrenzte Einsatzzeiten erlaubte.
Du kritisierst wieder die Regierung Schröder. Aber die ersten Weichen hat doch das Kohl- Kabinett gestellt.
Blüm: Es ist richtig, dass sich das Denken aller Parteien schon früher verändert hatte. Die neoliberale Welle ist rund um den Globus geschwappt und hat alle erfasst: Parteien, Wissenschaftler, Kirchen – übrigens auch Gewerkschafter. Wir waren Teil eines Paradigmenwechsels. Dessen Zauberworte hießen Deregulierung, Privatisierung, Kostensenkung. Aber ich denke, diese Zeit geht zu Ende.
Welche Fehler würdest Du heute rückgängig machen?
Blüm: Wir haben im Bündnis für Arbeit den Kündigungsschutz gelockert. Das war ein Fehler. Auf die 300 000 Arbeitsplätze, die mir der Handwerkskammer-Präsident dafür versprochen hatte, warte ich heute noch.
Was muss die Politik jetzt tun?
Blüm: Wir brauchen den Mindestlohn. Natürlich ist es besser, wenn die Tarifparteien die Löhne regeln. Aber wenn das nicht funktioniert, muss der Staat die Arbeitnehmer und die Sozialkassen vor der Ausbeutung durch die Arbeitgeber schützen.
Warum tut sich Deine Partei, die CDU, denn so schwer mit dem Mindestlohn?
Blüm: Weiß ich auch nicht. Aber lasst mich noch etwas zur Leiharbeit sagen: Wenn ich sie nicht wegbekomme, muss ich ihr die Krallen schneiden: Gleicher Lohn, Kündigungsschutz in den Betrieben und alle anderen elementaren Arbeitnehmerrechte müssen auch für Leiharbeitnehmer gelten.
Die IG Metall startet im Herbst ihre Kampagne „Kurswechsel für ein Gutes Leben“. Was ist für Dich „Gutes Leben“?
Blüm: Sichere Arbeit. Dass ich mir keine Sorgen machen muss, wie es übermorgen weitergeht. Gerechter Lohn – der ja nicht nur einen materiellen Wert hat, sondern auch Anerkennung bedeutet. Dass ich mitbestimmen kann.
Mit der schwarz-gelben Koalition dürfte es doch wohl schwierig werden, da etwas zu verbessern.
Blüm: Ich bin Optimist. Ich glaube, wer die öffentliche Meinung auf seiner Seite hat, kann Politik beeinflussen. Angela Merkel hat bei der Regulierung der Finanzmärkte gezeigt, dass sie lernfähig ist. Und: Alle Politiker wollen ja auch wiedergewählt werden.
Bis auf die der FDP offenbar.
Blüm: Also, da muss ich mal etwas zur Ehrenrettung der Liberalen sagen: Die, mit denen ich früher zusammengearbeitet habe, waren nicht ganz so schmalspurig wirtschaftsliberal wie die heutigen.