Für mehr Zeitsouveränität: Interview mit Stefan Schaumburg
Eine neue Kultur der Arbeitszeit

Mehr Zeit zum Leben, Lieben, Lachen – so begründete die IG Metall ihren Kampf für die 35-Stunden-Woche. Warum wir jetzt eine neue Debatte um die Arbeitszeitkultur brauchen, erklärt IG Metall-Tarifpolitiker Stefan Schaumburg.

27. Juli 201527. 7. 2015



Wie sähen die Arbeitszeiten aus, wenn die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer selbst darüber entscheiden könnten?

Stefan Schaumburg: Die meisten würden im Schnitt zwischen 32 und 35 Stunden in der Woche arbeiten. Das zeigt sowohl unsere Beschäftigtenbefragung als auch wissenschaftliche Studien.

Und in Wirklichkeit?
Werden Frauen oft in Teilzeit gedrängt, während in Vollzeit beschäftigte Männer im Schnitt 40 bis 42 Stunden arbeiten.

Wie kommt das?
Es gibt keine Angebote für verkürzte Vollzeit, obwohl sich gerade junge Familien das oft wünschen. Bei Vollzeitlern wird Arbeitszeit, die über die tarifliche hinausgeht, oft nicht erfasst. Etwa weil bei der Zeiterfassung Arbeitszeit, die eine bestimmte Stundenzahl überschreitet, gekappt wird. Oder weil Beschäftigte nach Feierabend zu Hause oder auch im Büro weiterarbeiten, weil der Arbeitsdruck so hoch ist. Arbeitszeit, die nicht erfasst wird, kann auch nicht begrenzt und vergütet werden.

Stefan Schaumburg leitet den Bereich Tarifpolitik beim IG Metall-Vorstand. Foto: Frank RumpenhorstWoran hakt es denn genau?
Die Tarifverträge in der westdeutschen Metallindustrie regeln meistens nur, dass die 35-Stunden-Woche im Durchschnitt von zwölf Monaten erreicht sein muss. Wie das geschieht, muss im Betrieb geklärt werden. Betriebsräte fühlen sich dabei teilweise von der IG Metall im Stich gelassen. Das Problem ist, dass es nicht überall betriebliche Regelungen gibt. Qualifizierte Angestellte wollen oft keine „starren“ Vorgaben, weil diese sie bei der Arbeit behindern. Arbeit ist nicht für jeden nur Mühe und Plage. Es ist aber wissenschaftlich erwiesen, dass überlange Arbeitszeiten ohne Ausgleich langfristig gesundheitsschädlich sind.

Was will die IG Metall tun, damit Wünsche und Wirklichkeit besser zusammenpassen?
Wir brauchen bei der Arbeitszeit unterschiedliche Lösungsmodelle. Wer taktgebunden oder schwer körperlich arbeitet oder beides zusammen, oft auch unter gesundheitsschädlichen Einflüssen, braucht kurzfristig einen Ausgleich. Für solche Beschäftigte müssen wir genauso wie für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über kürzere Wochenarbeitszeiten diskutieren. Hoch qualifizierte Angestellte, die ein Jahr an einem Projekt arbeiten, sind zwar weniger körperlich belastet, dafür aber öfter psychisch. Sie brauchen einen anderen Belastungsausgleich und mehr Freiräume während eines Projekts und im Anschluss daran.

Wie könnte das durchgesetzt werden?
Damit diese Freiräume entstehen, muss längere Arbeitszeit in Freizeit ausgeglichen werden. Das setzt aber zuerst einmal voraus, dass jede geleistete Arbeitsstunde erfasst wird. Wir müssen für Beschäftigte, die 40 Stunden oder länger arbeiten, über Langzeit- und Lebensarbeitszeitkonten reden, auf denen sie Arbeitszeit ansparen können.

Um dann was damit zu machen?
Um mal sagen zu können: Jetzt scheint die Sonne, jetzt geh? ich heim. Ich meine damit, um ihre Arbeit besser mit ihrem Leben vereinbaren und ihre persönlichen Wünsche erfüllen zu können. Etwa um sich weiterzubilden, Zeit für eine längere Reise zu haben oder Angehörige zu pflegen. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich jahrelang im Betrieb verausgabt und 40 Stunden und mehr gearbeitet haben, würden gern mal kürzertreten und was anderes machen, zeigen unsere Erfahrungen. Junge Eltern möchten ihre Arbeitszeit zeitweise verringern, um Zeit für die Familie zu haben. Es sollte möglich sein, dass alle, die mal kürzer arbeiten wollen, die fehlenden Stunden zur tariflichen Wochenarbeitszeit vor- oder später nacharbeiten.

Das wäre eine ganz neue Arbeitszeitkultur.
Das stimmt. Statt Arbeit ohne Grenzen und starren Einheitsregelungen für alle mehr persönliche Freiheit. Jeder verteilt seine Arbeitszeit so über das Arbeitsleben, dass er sein Leben individuell gestalten kann.

Denkst Du, die Arbeitgeber sagen: Super Idee, wir sind dabei?
Überhaupt nicht. Wenn es um Arbeitszeiten geht, laufen wir bei ihnen zuerst gegen eine Betonwand. Es wird eine harte Auseinandersetzung werden. Aber wenn die Arbeitgeber von Beschäftigten Flexibilität fordern und die Belegschaften auch bereit dazu sind, wenn betriebliche Abläufe es erfordern, müssen die Chefs es auch akzeptieren, dass Beschäftigte ihre Wünsche an Flexibilität verwirklichen können.

Warum denkt die IG Metall eigentlich nicht an eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung?
Wenn tatsächlich über 40 Stunden gearbeitet wird, macht es wenig Sinn, die 32-Stunden-Woche für alle zu fordern. Viele Beschäftigten wollen das auch nicht. Als wir für die 35-Stunden-Woche kämpften, ging es darum, in einer Zeit der Massenarbeitslosigkeit die Arbeit gerechter zu verteilen. Jetzt müssen wir die Arbeitszeit im Osten an den Westen angleichen. Für alle Beschäftigten geht es um die Balance von Arbeit und Leben. Umfragen zeigen: Arbeitszeit, Gesundheit, Vereinbarkeit sind die Themen, die den Menschen wichtig sind.

Was will die IG Metall als Nächstes tun?
Alle Arbeitszeit muss erfasst und, wo erforderlich, begrenzt werden. Sie soll grundsätzlich vergütet beziehungsweise durch Freizeit ausgeglichen werden. Und: Sie muss für Beschäftigte planbar und beeinflussbar sein. Wir starten gerade eine betriebliche Initiative, um für diese Themen zu sensibilisieren und mit Betriebsräten, Beschäftigten und Unterstützung von Wissenschaftlern Lösungen zu erarbeiten.

Und dann?
Wir wollen den Beschäftigten Lust darauf machen, mit Betriebsräten und Vertrauensleuten zu debattieren, wie es beim Thema Arbeitszeit und Vereinbarkeit weitergehen soll. Sie sollen ihre Bedürfnisse anmelden. Die IG Metall will die Kolleginnen und Kollegen nicht mit ihren Vorstellungen „beglücken“, sondern gemeinsam mit ihnen überlegen, wo wir in den nächsten Jahren bei der Arbeitszeit hinwollen. Auf dem Gewerkschaftstag im Oktober werden wir ein Aktionsprogramm erarbeiten. Klar ist, das Thema lässt sich nicht von heute auf morgen bewältigen. Wir brauchen einen langen Atem.
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