Jörg, seit der Gründung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes (DMV), der größten Vorläuferorganisation der IG Metall, vor 125 Jahren hat sich die Arbeitswelt grundlegend gewandelt. Was hat die IG Metall 2016 noch mit dem DMV von 1891 gemeinsam?
Jörg Hofmann: Für die Gründer des DMV wäre der Wohlstand unserer heutigen Gesellschaft unvorstellbar gewesen. Was sich seit 125 Jahren allerdings nicht verändert hat, ist die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen in Deutschland. Deshalb geht es der IG Metall heute wie damals darum, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Arbeit ist der zentrale Platzanweiser in dieser Gesellschaft. Gute Arbeit ist die Voraussetzung für ein gutes Leben. Auch das war vor 125 Jahren nicht anders als heute. Und eine elementare Erkenntnis aus der Gründungszeit leitet uns auch im 21. Jahrhundert: Gemeinsam – und eben nur gemeinsam und nicht als Einzelkämpfer – können wir für das gute Leben kämpfen.
Wir befinden uns mitten in der vierten industriellen Revolution. Wenn vernetzte Maschinen die Produktion übernehmen und selbst Büroarbeit immer mehr virtuell in der Cloud erledigt wird, haben Gewerkschaften dann eine Zukunft?
125 Jahre IG Metall zeigen, dass weder die erste, noch die zweite, noch die dritte – und ich bin mir sicher, auch nicht die vierte industrielle Revolution, das Aus gewerkschaftlichen Handelns bedeuten. Jede industrielle Revolution birgt in sich, dass Bestehendes in Frage gestellt und als antiquiert stigmatisiert wird. Wir sollten uns weder dieser Stigmatisierung beugen, noch auf der Restauration des Alten zu beharren. Die Aufgabe der IG Metall war und ist, Arbeitswelt und Gesellschaft sicher, gerecht und selbstbestimmt fortzuentwickeln.
Die Beschäftigten sollen selbst über ihre Arbeit bestimmen?
Selbstbestimmt zu arbeiten bedeutet, der Fremdbestimmung und der freien Verfügbarkeit der Arbeitskraft für den Arbeitgeber Grenzen zu setzen. Selbstbestimmt zu arbeiten ist praktische Demokratie im Arbeitsalltag. Und wir setzen uns dafür ein, dass alle in diesem Land ein selbstbestimmtes Leben führen können. Davon kann aber überhaupt erst die Rede sein, wenn die zunehmende Ungerechtigkeit bei den Chancen auf Bildung beseitigt ist. Denn ohne gute Bildung gibt es keine selbstbestimmte Arbeit.
Und wie stellt sich die IG Metall eine gerechte Arbeitswelt vor?
Gerecht ist vor allem gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Beschäftigte ohne Tarifvertrag verdienen im Schnitt 24 Prozent weniger, arbeiten vier Stunden länger und haben sechs Tage weniger Jahresurlaub als ihre Kolleginnen und Kollegen in Betrieben mit Tarifbindung. Das ist eine handfeste Ungerechtigkeit. Die Tarifbindung wieder zu erhöhen, ist deshalb unser zentrales Ziel. Und da befinden wir uns auf einem guten Weg: In der hinter uns liegenden Metall-Tarifrunde hat die IG Metall in 40 Betrieben erstmals Tarifverträge durchgesetzt. Das sind 10.000 Beschäftigte, die nicht mehr beim Chef betteln müssen, sondern auf tarifliche Ansprüche setzen können. Das ist unser Beitrag zu einer gerechteren Gesellschaft.
Die Beschäftigten sollten sich also auf gewisse Sicherheiten verlassen können. Aber wie gut passt das Stichwort Sicherheit in die flexible Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts?
Sehr gut. Sicherheit ist und bleibt der Leitbegriff für gewerkschaftliches Handeln. Wenn wir von Sicherheit sprechen, meinen wir verlässliche Regeln, Planbarkeit und ein ausreichendes Einkommen. Sicherheit bedeutet zum Beispiel, dass man sich darauf verlassen kann, dass sich Bildung lohnt. Auch planbare Arbeitszeiten sind Sicherheiten, die Arbeitgeber den Beschäftigten gewähren müssen, wenn sie von ihnen permanente Flexibilität fordern.
Die IG Metall möchte die Arbeitszeit wieder auf die Agenda setzen. Welche Ziele verfolgt sie?
Auch hier gilt unser Dreiklang. Arbeitszeit muss sicher, gerecht und selbstbestimmt sein. Sichere Arbeitszeit heißt vor allem planbare Arbeitszeit. Flexibilität kann nicht heißen: Paradies für den Arbeitgeber, Hamsterrad für den Beschäftigten. Gerechte Arbeitszeit bedeutet, dass jede geleistete Stunde vergütet wird – egal ob im Büro oder in der Bahn gearbeitet wird. Und selbstbestimmte Arbeitszeit meint, Ansprüche zu haben, die Arbeitszeit nach individuellen Bedürfnissen auch reduzieren zu können. Etwa um Kinder großzuziehen, Familienangehörige zu pflegen oder eine Fortbildung zu machen.
Wenn du 125 Jahre IG Metall gedanklich Revue passieren lässt, wo hat die IG Metall am deutlichsten ihre Spuren hinterlassen?
An vielen Stellen. Ein wesentlicher Verdienst ist sicherlich, dass es uns gelungen ist, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen in unserer Gesellschaft enorm zu verbessern. Der heutige Sozialstaat ist in vielen Punkten gesetzgewordene Gewerkschaftspolitik. Forderungen, die wir zunächst tariflich durchgesetzt haben wie zur Lohnfortzahlung, zum Urlaubsanspruch oder zur Arbeitszeit, wurden später gesetzlicher Anspruch für alle. Auf diese Vorreiterrolle sind wir stolz und geben sie auch in Zukunft nicht auf.
Welchen Herausforderungen stellt sich die IG Metall in den nächsten 125 Jahren?
Schon jetzt zeichnen sich eine ganze Reihe von Fragen ab, auf die wir als Arbeitnehmerorganisation mit sozialstaatlichem Gestaltungsanspruch Antworten finden müssen: Wie sieht Arbeit 4.0, wie sieht ein Sozialstaat 4.0 aus? An welchen Stellen bedarf es einer Weiterentwicklung des Arbeitsvertragsverhältnisses – der Basis eines auf Erwerbsarbeit bauenden Sozialstaats? Wie gehen wir mit den deutlich heterogeneren Lebenslagen und Arbeitsbedingungen um? Und: Wie lässt sich solidarisches Handeln in der digitalen Arbeitswelt der Zukunft organisieren?