Bonnmarsch: ein wahrlich „einschneidendes Erlebnis“

Bericht aus Geschäftsstelle Schweinfurt25 Jahre nach ihrem Fußmarsch brachen die „Botschafter der Stadt und Region“ erneut nach Bonn auf – diesmal mit dem Bus.

1. Dezember 20181. 12. 2018


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(Foto: Hannes Helferich)

 

„Den Einmarsch in Bonn erlebte ich glücklich, innerlich zufrieden und befreit. Ich möchte diese neun Tage in meinem Leben nicht missen.“ Zitiert ist Marianne Firsching, die Anfang der 1990er Jahre bei SKF beschäftigt war. In der Großindustrie in Schweinfurt waren schon 6000 Arbeitsplätze verloren gegangen, der weitere Abbau in der gleichen Größenordnung war angekündigt. Die Angst ging um in Schweinfurt und der Region. Es formierte sich aber unglaublicher Widerstand. Nicht nur die Betroffenen machten mit bei Mahnwachen, Schweigemärschen, bei einer Großdemonstration mit über 10000 Menschen auf dem Marktplatz Schweinfurt und einer Menschenkette mit 15000 Teilnehmern, die die Großfirmen mit dem Arbeitsamt verband.

Auf dem Höhepunkt der Krise im Herbst 1993 rief die IG Metall Schweinfurt den Marsch nach Bonn ins Leben. Die anfangs belächelte Aktion löste eine Welle der Solidarisierung in der Bevölkerung aus und vor allem rüttelte sie die Politik wach. Am 13. Oktober 1993 war Marianne Firsching, damals auch SPD-Stadträtin, eine von vier Frauen, die mit 35 Männern, der Älteste 56, der jüngste 21 Jahre alt, 320 für viele sehr strapaziöse Kilometer in die Ex-Bundeshauptstadt unter die Füße nahmen. Unterwegs unterstützte sie ein siebenköpfiges Küchen- und Feldbettenaufstell- Team.

Im Oktober 2018 brachen die „Botschafter der Stadt und Region“ noch einmal auf nach Bonn – mit dem Bus: An vier früheren Übernachtungsorten wurde Halt gemacht. Am Ende der Zweitagestour erreichten die Gewerkschafter das Ex-Bundeskanzleramt, wo sie einst eine Resolution mit Forderungen zur Rettung von Schweinfurt und Main-Rhön übergaben. Eine Veranstaltung, die auch wegen des würdevollen Gedenkens an die zehn verstorbenen Marschierer haften bleibt.

80 Kilometer hatten die Marschierer im zweiten Etappenort in Burgjoß in den Knochen. Im Gemeinschaftshaus sprach wie damals Gewerkschaftssekretär Klaus Pfaff seinen Respekt für die bis heute hoch anerkannte Aktion aus. Er dankte auch für die „Weitergabe von Kampferfahrung“, eine Anspielung auf die fünf Mitfahrer, alle Jugendarbeitnehmervertreter der IG Metall von ZF, FAG und Bosch Rexroth – wie Manuela Hebert (ZF). „Es ist unglaublich, was man alles in der Gemeinschaft schaffen kann“, sagte sie nach den zwei Tagen mit den alten Gewerkschafts-Haudegen.

Vor 25 Jahren wuchsen tatsächlich einander großteils unbekannte Menschen mit den unterschiedlichsten Charakteren trotz oder gerade wegen der widrigen Umstände – schlechtes Wetter, Strapazen, Schlafmangel – zu einer festgefügten Gruppe zusammen. „Wir gingen durchdick und dünn“, sagte der mit heute fast 80 Jahren Älteste, Wolfgang Spiegel (einst SKF). „Wenn Du für eine gerechte Sache eintrittst, dann setzt das eine unheimliche Energie frei“, sagte Wolfgang Gutgesell (ZF) in Burgjoß und mit ähnlichen Worten vor wenigen Tagen bei der Delegiertenversammlung der IG Metall Schweinfurt, der die noch immer umjubelten Bonnmarschierer als Ehrengäste beiwohnten.

Friedrich Wenzel hatte seinen festen Arbeitsplatz beim KKG Grafenrheinfeld, ist aber „aus Solidarität mitgelaufen“. Walter Hußmann (F&S) trug neben seinem Gepäck jeden Tag die IG Metall-Fahne, „für mich eine große Ehre“. 155 Kilometer waren nach Etappe vier in Nieder- Mörlen bei Bad Nauheim gemeistert. In der Turnhalle gestand Egon Friedel (Preh Bad Neustadt) ein, dass der Marsch auch für ihn, obwohl Marathon-Läufer, „eine wahnsinnige Herausforderung war“. An den Regentagen gab es schon mal Bratwürste mit Wasser als Wegzehrung, „aber wir haben alles für die Marschierer getan“, berichtete Günther Stark vom Küchenteam. Das stimmt.

In Asbach, der letzten Station und 40 Kilometer vor Bonn, erinnern sich Sieglinde Gagel (FAG), die ihren Hund Rico dabei hatte, Reiner Niklaus (F&S), Frank Bauer (FAG), Wolfgang Brischwein und Dieter Schwab (beide SKF). Sie alle sprechen von einem für sie „einschneidenden Erlebnis“. Bonn wird 1993 am 21. Oktober um 14 Uhr erreicht.

Die Anstrengungen sind wie weggeflogen, als die Marschierer von den mit Bussen aus Schweinfurt angereisten 250 Gewerkschaftern, Freunden und Angehörigen umjubelt empfangen werden. Im Kanzleramt übergibt eine zehnköpfige Delegation die vorher erarbeitete Resolution. Dann Heimreise. Um 21.49 Uhr kommt der Bus in Schweinfurt an, am Markt feiern 500 Menschen ihre Helden enthusiastisch.

 

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Wiedersehen und Rückblick (Foto: Hannes Helferlich)

 

Bei der von Juliane Deak (IG Metall SW) organisierten Abschlussfeier im Oktober 2018 in Bonn erinnerte der damalige Orga-Leiter und heutige Erste Bevollmächtigte Peter Kippes an seinen Vorvorgänger Gerhard Tollkühn, den „Erfinder“ des Bonnmarsches. Kippes freut sich im Rückblick, dass auch dank der Medien das erhoffte bundesweite Echo nicht ausblieb, dass Schweinfurt letztlich Hilfe erfuhr, aber vor allem, dass eine bis heute anhaltende überbetriebliche Solidarität entstanden sei, „die die Arbeitgeber am meisten fürchten“. Jens Öser, einst Sprecher der bedrohten FAG-Auszubildenden, wird namens der IG Metall die weiteren Treffen der Marschierer organisieren.

Der Autor hat den Marsch als Reporter begleitet und täglich im Schweinfurter Tagblatt berichtet.

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