Lackiererei verpasst Schichtmodell neuen Anstrich

Arbeitgeber sind oft anderer Meinung als Gewerkschaft, Betriebsräte und Beschäftigte. Ein Projekt bei Audi in Ingolstadt zu flexibleren Schichtmodellen zeigt jedoch, dass konstruktive Zusammenarbeit, aufgebrochene Hierarchien und breite Beteiligung zu guten Ergeb­nissen führt.

1. Januar 20211. 1. 2021


Flexible Arbeitszeiten und starre Schichtmodelle – das passt nicht zusammen, oder? Einem durch Wissenschaftler verstärkten Team von Beschäftigten, Betriebsrat und Führungskräften der Audi-Lackiererei in Ingolstadt ist es gelungen, das scheinbar Unvereinbare zusammenzubringen. Gemeinsam arbeiteten sie 16 Monate lang an flexiblen Schichtmodellen. Ungeachtet aller Hierarchien hat das Team auf Augenhöhe diskutiert und gemeinsam Antworten auf die Frage gesucht, wie sich Schichtarbeit flexibler gestalten lässt. „Innovation sollte nicht nur in Start-ups stattfinden, sondern im Herzen der Betriebe, das gilt gerade auch für die Produktion“, sagt die Wissenschaftlerin Kira Marrs, die am Institut für Sozialforschung (ISF) in München zum digitalen Umbruch von Wirtschaft und Arbeit forscht und das Projekt begleitet hat. „Wir müssen in den Betrieben, mit den Beschäftigten, Betriebsräten und dem Management gemeinsam Innovationen vorantreiben.“ Deshalb hat das ISF  betriebliche Praxislaboratorien wie das in Ingolstadt entwickelt, die als Experimentierraum für offene Gestaltungs- und Zukunftsfragen in Unternehmen dienen.
 

Marika Paulus (Foto: Audi AG)


„Bei den Praxislaboratorien geht es um mehr als nur darum, ein definiertes Ziel zu verfolgen. Das Projekt hat uns die Möglichkeit gegeben, uns offen einem Thema zu widmen und dieses vorurteilsfrei anzugehen – ohne vorgefertigte Lösungen“, bestätigt Marika Paulus, Koordinatorin für Umweltschutz in der Lackiererei. Marika ist Leiterin des Lab-Teams, dem Arbeitskreis, der an den Fragestellungen und Lösungsansätzen gearbeitet hat. Neben dem Lab-Team gab es einen Lenkungskreis mit Vertreterinnen und Vertretern aus der Leitung, dem Betriebsrat, dem Gesundheitswesen und der Personalabteilung. Nach der sogenannten agilen Methodik haben sich die beiden Teams nach mehrwöchigen Arbeitsphasen, auch Sprints genannt, getroffen.


Probleme der Vereinbarkeit treffen häufig Frauen

So konnte das Lab-Team seine Ideen und Ergebnisse präsentieren, sich Feedback und, falls nötig, Unterstützung holen.

Das Engagement im Team war groß. „In der Produktion war ich in der Wechselschicht, deshalb weiß ich, wie es ist, taktgebunden zu arbeiten“, sagt Melanie Machacek über ihre Motivation, an dem mehrmonatigen Projektlaboratorium teilzunehmen. „Mir ist es wichtig, dass Alleinerziehende und Kollegen, die jemanden zu Hause pflegen, in Zukunft die Möglichkeit haben, ihre Arbeitszeit zu verkürzen“, sagt Melanie, die ebenfalls Teil des Lab-Teams und IG Metall-Vertrauensfrau ist.
 

Melanie Machacek war als IG Metall-Vertrauensfrau Teil des Praxislaboratoriums. Ihr ging es bei dem Projekt vor allem um bessere Lösungen für Alleinerziehende und Pflegende. (Foto: Audi AG)


In der Frühschicht, der Spätschicht und der Dauernachtschicht arbeiten 2500 Produktionsbeschäftigte in der Lackiererei von Audi in Ingolstadt. „Die Schichtarbeit hat nicht nur Nachteile, sondern auch Vorteile. Man kann zum Beispiel Termine langfristig planen“, sagt der Metaller Andreas Beskid, der als Gruppenleiter im Bereich Korrosionsschutz ebenfalls im Lab-Team mitgearbeitet hat. „Umgekehrt ist es schwierig, auf kurzfristige Einflüsse zu reagieren oder regelmäßige Termine innerhalb der starren Schicht einzuhalten, wenn zum Beispiel in der Früh die Kinder versorgt werden müssen oder es nach der Schule keine Betreuungsmöglichkeit gibt.“
 

Andreas Beskid (Foto: Audi AG)


In der Produktion arbeiten zwar überwiegend Männer, Vereinbarkeit bleibt weiterhin vor allem eine Herausforderung für Frauen, da sie trotz aller Gleichberechtigung immer noch den Großteil der Fürsorgearbeit leisten. „Wenn wir über Transformationsprozesse sprechen, müssen wir auch sicherstellen, dass die Interessen und Sichtweisen von Frauen von Beginn an mitgedacht werden“, sagt die Wissenschaftlerin Kira Marrs und ist damit auf einer Linie mit Christiane Benner, der zweiten Vorsitzenden der IG Metall. Sie sagt: „Wir fordern eine Stärkung der Beteiligungsrechte von Beschäftigten und Mitbestimmungsrechte bei moderner Arbeitsorganisation wie agilem Arbeiten. Genau das Beispiel zeigt, wie sich mit starker Mitbestimmung und Beteiligung eine geschlechtergerechte Arbeitswelt gestalten lässt. Das, was der Betriebsrat erreicht hat, ist vorbildlich und zukunftsweisend.“

Das vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales finanzierte Praxislaboratorium fördert unter dem Projektnamen #womendigit Frauen als Gestalterinnen in Digitalisierungsprozessen. In Ingolstadt ist das gelungen.


Das Projekt geht auch nach Abschluss weiter

Beim ersten Zusammentreffen saßen den älteren männlichen Führungskräften viele junge Frauen gegenüber. Das zeige, so Kira Marrs, wie alte Strukturen aufbrechen können und dass Frauen aktiv an diesen Prozessen mitgestalten wollen. Marika Paulus und Melanie Machacek, beide unter 30 und voll engagiert, sind ideale Beispiele für diesen Prozess.

Mittlerweile ist die gesamte Lackiererei Teil des vom Praxislaboratorium erarbeiteten Springer-Modells, das die starren Schichtzeiten ersetzt. „Flexibler Einsatz in der Schicht bedeutet nicht, dass jeder kommen kann, wann er oder sie will“, sagt Marika. Die Kollegen und Kolleginnen können in dem neuen Modell ihre Arbeitszeit flexibler legen – aber dennoch klar definiert. „Eine Mutter kann erst um 8 Uhr beginnen, weil sie ihr Kind vorher in die Kita bringen muss. Von 6 bis 8 Uhr muss dann ein Springer für sie eingeplant werden. Dank dieses Zeitfensters kann sie weiterhin ihre Schicht wahrnehmen.“

Das Audi-Team will das Modell 2021 weiterentwickeln. Denn auch die Leitung ist von dem Beteiligungskonzept überzeugt. „Gerade in Zeiten der Transformation ist es essenziell, neue Wege zu gehen“, sagt Sabine Maaßen, Arbeitsdirektorin bei der Audi AG. „Im Praxislaboratorium haben das viele Audianerinnen und Audianer getan – in beeindruckender Weise, agil und bereichsübergreifend. Das ist Empowerment pur und zugleich aktive, beteiligungsorientierte Zukunftsgestaltung.“

Die Zusammenarbeit zwischen der Leitungsebene, dem Betriebsrat und den Beschäftigten wurde von allen Seiten als gelungen befunden – wie auch ein Blick in den Betriebsrat zeigt. „Das Praxislaboratorium ist für den Audi Betriebsrat Teil eines breiten und von uns schon länger im Unternehmen vorangetriebenen Projektes zur Zukunft der Mitbestimmung in Zeiten des digitalen Umbruchs der Arbeitswelt“, sagt Peter Mosch, Gesamtbetriebsratsvorsitzender der Audi AG. „Besonders wichtig ist für uns, dass hier auf Augenhöhe bei der Entwicklung eines Arbeitszeitmodells im Schichtbetrieb der Lackiererei, beteiligungsorientiert von Beschäftigten, Management und Arbeitnehmervertretung, zusammengearbeitet wurde.“ Diese Beteiligten werden auch im neuen Jahr weiter zusammen an dem Schichtmodell arbeiten.

| Das könnte Dich auch interessieren
Kontakt zur IG Metall

Newsletter bestellen