„Solidarisch ist man nicht alleine!“

Bericht aus Geschäftsstelle LudwigsburgEin Interview mit dem Betriebsseelsorger Paul Schobel

1. Juni 20201. 6. 2020


Wie geht es Dir in Zeiten, in denen das anständige Abstand halten wichtig ist?

Paul Schobel: Die Maskerade nervt mich am meisten. Als Seelsorger ist man gewohnt, in Gesichtern zu lesen, aber nun begegnen mir lauter Gnome. Die Menschen dürfen sich nicht mehr zu erkennen geben, verbergen einen Teil ihrer Identität. Gleichzeitig freut mich klammheimlich, dass nun „Big Brother“ mit seiner automatischen Gesichtserkennung gegen die Wand läuft.
Wenig lustig finde ich, dass weder Gewerkschaften noch Kirchen zurzeit das demonstrieren, also nach außen zeigen können, was sie eigentlich ausmacht: gewerkschaftliche Solidarität und christliche Gemeinde. Wie gerne hätten wir am 1. Mai auf Straßen und Plätzen kundgetan: „Solidarisch ist man nicht alleine!“ Ich selbst fühle mich eben deswegen nicht alleine, weil ich so vielen Menschen verbunden bin. Wohl aber sehne auch ich mich wieder nach Nähe und einer herzlichen Umarmung.

Was bedeutet für Dich Solidarität?

Paul Schobel: Die Schnittstelle zwischen Gewerkschaften und Kirchen! Die beiden hätten nie auseinandergeraten, geschweige denn aneinandergeraten dürfen. Denn beide verbindet die Vision einer gerechten, geschwisterlichen Gesellschaft. Solidarität beschreibt den Weg dahin. Sie ist – biblisch gesprochen – gelebte Liebe. Die darf sich natürlich nicht einfach nur in reiner Mildtätigkeit verlieren, sondern muss sich in gerechten Strukturen niederschlagen. Liebe schreit geradezu nach Gerechtigkeit. Die beiden gehören untrennbar zueinander. Gerechtigkeit aber fällt uns nicht einfach kampflos in den Schoß. Daher bedeutet Solidarität immer auch die Entfaltung von Gegenmacht.

Hat Solidarität in der globalisierten Welt von heute überhaupt eine Daseinsberechtigung?

Paul Schobel: Umgekehrt wird ein Schuh draus: Eine globale Welt ist ohne Solidarität dem Untergang geweiht. Der Kapitalismus mit seiner primitiven Mechanik von Markt und Wettbewerb richtet die Welt zugrunde. Er beutet die Rohstoffe aus, versaut das Klima und wiegelt die Völker gegeneinander auf. Selbst damit macht er über Rüstung und Krieg noch ein lukratives Geschäft. Das „Gesetz des Stärkeren“, mit dem der Kapitalismus operiert, spaltet die Menschheit in Gewinner und Verlierer. Wenn Oxfam richtig rechnet, besitzen gegenwärtig acht Menschen so viel wie der ärmere Teil der gesamten Menschheit.
Wir haben nur noch ein einziges Spiel frei, und da sind wir wieder bei der biblischen und gewerkschaftlichen Solidarität: Entweder lernen wir global das Teilen und machen „Teilen“ zum Prinzip wirtschaftlichen Handelns oder die Menschheit wird sich zerfleischen und die Schöpfung kollabieren.
Solidarität aber kann man nicht verordnen oder befehlen: Sie muss in tausend kleinen Zeichen und Schritten gelebt und im Gewissen der Menschen verankert werden. Nicht als lästige Pflicht und Schuldigkeit, sondern weil es schön und lebenswert ist, zueinanderzustehen. Der Kapitalismus hat uns nämlich alle still und leise mit dem Virus des Egoismus infiziert und zu „Marktsubjekten“ gemacht. „Jeder ist sich selbst der Nächste.“
Gewerkschaften und Kirchen und mit ihnen viele andere können und müssen mitwirken, eine „Herden-Immunität“ zu entwickeln, um so das todbringende Virus „Egoismus“ unschädlich zu machen.

alt
Foto: Joe Röttgers/ www.garafftiti-foto.de
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