Souverän und ohne Hektik

Beschäftigte brauchen in jedem Betrieb wirksamen Schutz vor psychischen Belastungen. Ein Forschungsprojekt setzt darauf, damit in der Ausbildung anzufangen. Wie es richtig gehen kann, zeigen angehende Mechatroniker der Elster GmbH in Lotte.

30. August 201930. 8. 2019
Jens Knüttel


Die Auszubildenden Jeannina Heider, Nico Lenders und Paul Flake haben nur wenig Zeit, zehn Minuten lautet die Vorgabe. Nach der Wartung einer Roboteranlage ist bei der Wiederinbetriebnahme ein Fehler aufgetreten. Die Linie soll schnell wieder laufen, um Gaszähler für Privathaushalte produzieren zu können. Die drei Auszubildenden machen sich sofort an die Problemlösung. Alle drei werden zu Mechatronikern bei der Elster GmbH in Lotte nahe Osnabrück ausgebildet, alle sind im zweiten Ausbildungsjahr. Sie spüren den Zeitdruck, auch wenn das hier nur eine Simulation ist. „Mit jeder Minute, in der die Produktion stillsteht, geht dem Unternehmen Geld verloren“, sagt Nico Lenders. Stress und Hektik sind allerdings keine Lösung. Denn durch Zeit- und Leistungsdruck kommt es zu psychischen Belastungssituationen, die sich dauerhaft auf die Gesundheit auswirken können.

Die Experten der Instandhaltung haben für die Auszubildenden zuvor die Fehlerquelle lokalisiert, eingegrenzt und diese zum Einsatzort an der Roboteranlage in der Produktion geschickt. Im Team sprechen sie sich ab: Jeannina steuert die Anlage über das Bedienpult, Paul arbeitet direkt am Roboter, Nico koordiniert. Die Arbeit im Team ist enorm wichtig, um die Aufgabe rasch zu lösen, dabei aber möglichst nicht in Hektik zu verfallen. Dafür sind die Auszubildenden im Forschungsprojekt IntAGt gezielt geschult und sensibilisiert worden. IntAGt steht für „Integration von präventivem Arbeits- und Gesundheitsschutz in Aus- und Fortbildungsberufen der Industrie 4.0“. Ziel ist es, Wissen über psychische Gesundheit zu vermitteln und Wege aufzuzeigen, wie man Arbeit gestalten kann und souverän mit stressigen Situationen umgeht.


Stress als täglicher Begleiter 

An dem Projekt haben sich die IG Metall und die Elster GmbH, Teil des Honeywell-Konzerns, in den vergangenen drei Jahren beteiligt. Die IG Metall fordert als Lernziel für alle Ausbildungsberufe, dass Auszubildende psychische und physische Belastungssituationen im Arbeitsumfeld frühzeitig erkennen und lernen, auf Verbesserungen hinzuwirken. Das ist ein Lernziel, bei dem auch die Ausbilder und Berufsschullehrer mitziehen müssen ― indem sie es entsprechend in die Ausbildungs- und Lehrpläne einbauen.

„Stress ist leider ein alltäglicher Begleiter“, sagt Jugend- und Auszubildendenvertreter Paul Flake. Während der IntAGt-Workshops im Betrieb wurden die Auszubildenden daher mit verschiedenen Störfaktoren wie fehlenden Produktionsteilen, verstopften Versorgungsleitungen oder plötzlich verkürzten Zeitfenstern konfrontiert. Sie mussten spontan handeln. Die Auszubildende Jeannina Heider zieht daraus ihre Lehren: „Ich versuche meine Arbeitsabläufe nun mehr zu planen, um in Stresssituationen souveräner zu agieren oder sie möglichst ganz zu vermeiden.“ Nico Lenders fügt hinzu: „Ich achte nun noch stärker auf andere und ihre Situation am Arbeitsplatz.“

Zurück an der Roboteranlage: Nach ein paar Tests haben die Auszubildenden erkannt, dass zwei Stecker vertauscht sind. Jeannina, Paul und Nico beheben das Problem ohne Hektik, souverän. Die Zylinder fahren wieder in die korrekte Position, die Produktion der Gaszähler kann weiterlaufen. Diese Übung unter realen Bedingungen wird bei Elster künftig fest in die Ausbildung integriert, um das Verhalten in Belastungssituationen zu reflektieren. Franz Flake, IntAGt-Projektverantwortlicher bei Elster, betont: „Alleine wären die Auszubildenden im zweiten Lehrjahr mit der Aufgabe und dem Zeitdruck überfordert gewesen.“ Gute Teamarbeit, Anerkennung und eine wertschätzende Arbeitsatmosphäre helfen ihnen in belastenden Situationen weiter.

Um einen wirksamen Arbeits- und Gesundheitsschutz in der Ausbildung sicherzustellen, kommt Führungskräften und Ausbildern enorme Bedeutung zu. Sie sollten Aufgaben und Stresssituationen mit den Auszubildenden besprechen ― so haben es die Ausbilder von Elster in den IntAGt-Workshops eingeübt. „Das ist ein absolutes Muss“, sagt Franz Flake. Durch Reflektion könne es überhaupt erst zu Verbesserungen kommen. Mit Blick auf neue Anforderungen und Technik betont er: „Die Digitalisierung muss begleitet werden. Sonst droht komplette Überforderung und die Beschäftigten werden gesundheitlich stark belastet.“

Ausgangspunkt des Forschungsprojekts IntAGt waren Arbeitsanalysen, für die 150 von 950 Mitarbeiter der Elster GmbH befragt wurden: Was sind regelmäßig wiederkehrende Belastungen? Hast Du Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum in der täglichen Arbeit und die nötigen Informationen? Gibt es digitale Arbeitsmittel? Oder: Wie verändert sich die Arbeit durch die Digitalisierung?


Gegenmaßnahmen wirken 

Erste Gegenmaßnahmen zu den Belastungen im Arbeitsalltag werden bei Elster schon umgesetzt: Die Hitze in der Produktion belastete die Beschäftigten in den Sommermonaten enorm, wie die Analysen verdeutlicht haben. Das Unternehmen hat reagiert und Kühlschläuche anbringen lassen. Auch die Lärmbelastung in den Hallen ist ein großes Thema. Vorschläge für Gegenmaßnahmen bringen die Beschäftigten ― gestützt auf die Ergebnisse der Arbeitsanalysen ― beim Arbeitgeber ein.

Geht es nach den IntAGt-Projektbeteiligten bei Elster, soll sich ausgehend von dem Forschungsprojekt ein Kulturwandel einstellen, den Auszubildende, Ausbildungspersonal, Betriebsrat und Jugend- und Auszubildendenvertretung gemeinsam vorantreiben: Präventiver Arbeits- und Gesundheitsschutz soll im Betrieb noch stärker mitgedacht werden; Stresssituationen, ausgelöst durch hohen Zeitdruck, unerwartete Ereignisse im Produktionsablauf oder neue digitale Technik, sollen besser bewältigt werden ― zum Wohle aller Beschäftigter.

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