Smartphone, Online-Einkauf, Facebook: Die Digitalisierung hat den Alltag der Menschen verändert und neue Giganten der Weltwirtschaft entstehen lassen. Mittlerweile sind die wertvollsten Unternehmen der Welt, gemessen am Preis ihrer Aktien, allesamt Digital-Konzerne: Apple, die Google-Mutter Alphabet, Amazon und Microsoft. Facebook und die beiden chinesischen Tech-Unternehmen Tencent und Alibaba sind ebenfalls unter den Top Ten. Der Wandel ist längst nicht zu Ende, die deutsche Industrie befindet sich mitten im Umbruch. Was können Politik und Gewerkschaften tun, damit von digitalen Technologien nicht nur ein paar Unternehmen profitieren? Das wollten wir von Jörg Hofmann wissen, der als IG-Metall-Chef die größte Gewerkschaft Europas leitet.
Ein Leben ohne Google, Facebook und Co ist für viele kaum mehr vorstellbar. Gibt es ein Angebot von diesen Firmen, dass Sie besonders gut oder schlecht finden, oder vielleicht beides zusammen?
Jörg Hofmann: Gut ist, dass soziale Medien Möglichkeiten bieten zu kommunizieren, die es bisher nicht gab. Das Schlechte ist: Der Digitalmarkt ist stark monopolisiert. Das merken nicht nur private Nutzer von sozialen Medien, sondern auch Unternehmen. So wird das Geschäft mit der Cloud von einigen wenigen Konzernen beherrscht und der Konzentrationsprozess hält an. Das ist ein wachsendes Problem nicht nur der Datensouveränität und Datensicherheit, denn Unternehmen aus allen Wirtschaftszweigen sind auf die Cloud-Dienste angewiesen. In absehbarer Zeit wird kaum noch ein Geschäft ohne sie möglich sein. Die Cloud-Anbieter haben bereits eine enorme Macht, und sie werden noch mächtiger, wenn alles weiter so läuft wie bisher.
Wer sind die großen Cloud-Anbieter?
Für den industriellen Bereich sind es große Hyperscaler wie Amazon, Microsoft, Google oder Alibaba. Fast 95 Prozent der Daten in der Cloud, die weltweit erzeugt werden, gehen über die Server dieser Konzerne. Die Cloud-Anbieter bieten nicht nur Datenspeicher, sie sorgen auch dafür, dass große Datenmengen fast überall zu jeder Zeit zur Verfügung stehen.
Diese Dienstleistung wird wichtiger, weil der Datenaustausch rasant wächst?
So ist es. Immer mehr Daten werden mit hoher Geschwindigkeit verschickt, zwischen Menschen, Maschinen, Produkten, Firmen und ihren Kunden. Und fast immer sind Cloud-Anbieter als Vermittler dabei. Ein paar Beispiele: Wenn Siemens in Malaysia eine Maschine installiert und ein Werkzeug heiß läuft, dann leuchtet bei Siemens in Deutschland auf einem Bildschirm kein rotes Lämpchen mehr auf, sondern die Daten werden über die Cloud mit Algorithmen der künstlichen Intelligenz ausgewertet und gegebenenfalls automatisch der Austausch eines Moduls vor Ort angeordnet. Das macht dann nicht mehr der qualifizierte Außendiensttechniker, sondern eine billige Hilfskraft vor Ort. Beim autonomen Fahren werden Informationen in Millisekunden zwischen Autocomputer und Cloud ausgetauscht. Auch die Medizintechnik arbeitet mit Riesendatenbeständen. Online-Banking und Online-Einkauf laufen über Clouds. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Praktisch alle digitalen Geschäftsmodelle sind heute in Europa angewiesen auf die Dienste der US-Konzerne wie Amazon, Microsoft und Google. Sie verdienen immer kräftig mit und zahlen in Europa kaum Steuern. Sie sind bisher die großen Digitalisierungsgewinner.
Sie haben kürzlich europäische Alternativen zu Amazon und Co gefordert, die nicht nach Profitgesetzen organisiert sind. Was schwebt Ihnen vor?
Damit kein Missverständnis entsteht: Ich will nicht, dass die EU ein Unternehmen gründet.
Sondern?
Es ist ein Problem, dass fast die gesamte europäische Wirtschaft auf diese wenigen Cloud-Anbieter angewiesen ist. Das schafft neben wirtschaftlichen vor allem auch politische Abhängigkeiten und führt dazu, dass in einem strategischen Teil der Wertschöpfung keine Souveränität Europas besteht. Deshalb wäre eine europäische Alternative wünschenswert, die eine öffentliche digitale Infrastruktur für Cloud-Lösungen bereitstellt und die hiesigen Anforderungen an Datensicherheit und Datenschutz erfüllt.
Auch ein europäisches Unternehmen wäre nach Profitgesetzen organisiert und würde versuchen, möglichst hohe Gewinne zu machen.
Deshalb brauchen wir eine politische Regulierung, die Unternehmen Vorgaben macht, etwa indem solche Cloud-Lösungen öffentlich ausgeschrieben werden und die Anbieter die dort genannten Anforderungen erfüllen müssen. So muss die Politik etwa die Eigentumsrechte von Daten wirksam regeln. Für jede Information muss hinterlegt werden, wem sie wie lange gehört und wie sie verschlüsselt wird, damit die Daten sicher sind. Beim autonomen Fahren geht es zum Beispiel darum, dass die Routen der Fahrer ohne ihr Wissen nicht jahrelang irgendwo gespeichert sind.
Die Bundesregierung fördert die sogenannte Gigabit-Gesellschaft, in der künftig Menschen, Maschinen und Dinge nahtlos miteinander vernetzt sein sollen. Anfang nächsten Jahres will sie Frequenzen für den neuen Mobilfunkstandard 5G versteigern, der mindestens zehn Mal schneller ist als heutige DSL-Netze. Das Verkehrsministerium hofft, dass sich Deutschland und Europa damit erstmals wieder einen technologischen Vorsprung vor den USA und Asien sichern können. Was halten Sie davon?
Der neue 5G-Mobilfunk ist tatsächlich enorm wichtig, gerade deswegen muss diese digitale Infrastruktur ein öffentliches Gut werden.
Das heißt?
Jeder Bürger und jedes Unternehmen muss dieses Netz nutzen können. Die Bundesregierung fordert von den Firmen, die sich an der Versteigerung beteiligen, dass 98 Prozent der Bevölkerung Zugang zu dem 5G-Netz haben. Das Problem: Die restlichen zwei Prozent der Bürger leben auf 20 Prozent der Fläche der Republik. Dummerweise führen dort auch Bundes- und Landesstraßen durch, deswegen sollte die Politik eine Gesamtabdeckung von den Anbietern fordern. Eine Lösung wäre hier ein nationales Roaming in solchen bevölkerungsarmen Regionen. Und der Ausbau der Infrastruktur muss schnell gehen.
Wieso ist der 5G-Mobilfunk so wichtig?
Er ermöglicht zusammen mit dem Glasfaserausbau eine exponentielle Erhöhung der Datenmenge und der Geschwindigkeit, mit der Informationen von A nach B gelangen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass moderne Medizintechnik, moderne Maschineninstandhaltung und autonomes Fahren auch jenseits der Metropolen funktionieren. Ohne diese Infrastruktur ist das, was man unter Industrie 4.0 versteht, im großen Stil nicht möglich.
Wie ist denn zurzeit der technologische Stand der Dinge in der deutschen Industrie?
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat kürzlich erfragt, wie viele Betriebe in der Elektrobranche bereits moderne Digitaltechniken nutzen, also zum Beispiel kollaborierende Roboter, die Hand in Hand mit Beschäftigten arbeiten, die Vernetzung durch Industrie 4.0 oder der Einsatz von künstlicher Intelligenz. Demnach haben 14 Prozent der Unternehmen solche Technologien schon in ihre Geschäftsmodelle integriert, 30 Prozent nutzen einzelne Komponenten. Der Rest ist hintendran. Teilweise, weil die Infrastruktur fehlt, teilweise, weil die natürliche Intelligenz an der Spitze des Unternehmens fehlt.
Sie plädieren dafür, dass Industriebetriebe möglichst schnell neue Roboter und Künstliche Intelligenz einsetzen, obwohl dadurch Arbeitsplätze wegrationalisiert werden?
Alles beim Alten zu belassen, ist keine Lösung. Wir stellen fest, dass Unternehmen, die frühzeitig digitale Technologien eingeführt haben, zusätzliche Jobs schaffen, weil sich ihre Stellung am Markt verbessert. Deshalb befürchte ich, dass Firmen, die diese Entwicklung verschlafen, mit den Interessen der Beschäftigten fahrlässig umgehen. Gleichzeitig stimmt es natürlich, was Sie sagen: Maschinen und Software erledigen künftig Arbeiten, die bisher Menschen erledigt haben. In anderen Bereichen werden aber neue Jobs entstehen.
Nach einer Modellrechnung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung könnten bis 2035 rund 1,5 Millionen Jobs abgebaut werden, wenn die Arbeitswelt vollständig digitalisiert wird. Andererseits könnten fast ebenso viele neue Jobs entstehen, etwa durch Investitionen in intelligente Netze bei Energie. Die Forscher haben für die Modellrechnung angenommen, dass Unternehmen massiv in neue Anlagen investieren und der Staat die Infrastruktur ausbaut, dass Produkte und Maschinen mit Sensoren ausgestattet und Routinetätigkeiten in Fabrikhallen und Büros automatisiert werden.
Dieses Szenario zeigt, worum es geht: Wenn 1,5 Millionen Jobs wegfallen, dann müssen wir dafür sorgen, dass 1,5 Millionen Beschäftigte künftig andere Arbeiten erledigen können. Und dies zu guten Arbeitsbedingungen und Entgelten. Andernfalls haben wir ein Problem. Die zentrale Frage lautet: Wie kann man die digitale Transformation so gestalten, dass die Beschäftigten nicht in Gewinner und Verlierer gespalten werden, in Menschen mit relativ guten Arbeitsbedingungen und Leuten, die allenfalls einen prekären Job haben?
Was kann die Politik tun, damit die Digitalisierung Beschäftigten nicht schadet?
Sie muss Sicherheit geben und die Verpflichtung der Arbeitgeber zur Qualifizierung stärken, Entlassungen sind keine Lösung. Dazu gehört ein wirksames Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats, um Weiterbildungsmaßnahmen durchzusetzen. Ein erster Schritt ist das sogenannte Qualifizierungschancengesetz der Großen Koalition. Demnach können Beschäftigte, deren Job mutmaßlich wegen des Strukturwandels wegfällt, für eine Umschulung freigestellt werden. Die Bundesagentur für Arbeit übernimmt einen Teil des Entgeltausfalls.
Können Sie sich auch vorstellen, dass der technische Fortschritt Beschäftigten nicht nur nicht schadet, sondern nützt?
Natürlich ist es möglich, dass Beschäftigte von der Digitalisierung profitieren. Schauen Sie: In Autofabriken wuchten heute oft Maschinen statt Menschen schwere Teile ans Fließband. Das ist ein technischer und sozialer Fortschritt. Genauso ist die digitale Transformation nicht per se schlecht. Es ist im Prinzip gut, wenn Computerprogramme einfache, monotone Arbeiten übernehmen und Menschen mehr Zeit für andere, anregende Tätigkeiten haben. Wichtig ist, dass die Beschäftigten nicht einfach aussortiert, arbeitslos oder gar mit einem bedingungslosen Grundeinkommen abgespeist werden, während die Digitalisierungsprofite eingestrichen werden.
Was schlagen Sie vor?
Was uns wirklich nach vorn bringen würde und ein echter Fortschritt für Arbeitnehmer insgesamt wäre: dass die, die schon heute am Rande der Arbeitsgesellschaft in prekären Jobs stehen, nicht bereits als Digitalisierungsverlierer feststehen. Und das verlangt, dass unbefristete Arbeitsverträge mit tariflichem und gesetzlichem Schutz die Arbeitswelt bestimmen. Denn Unternehmen können sich problemlos von befristet Beschäftigten, Leiharbeitern oder Praktikanten trennen, wenn ihre Arbeit automatisiert wird. Das ist bei unbefristet Beschäftigten, die einen Kündigungsschutz haben, nicht so leicht und nicht so billig möglich. Sichere Arbeit ist die Voraussetzung dafür, dass sich Arbeitgeber Gedanken machen, was mit Beschäftigten passieren soll, wenn ihre Jobs wegfallen. Für unbefristet Beschäftigte können wir als Gewerkschaft auch besser zusätzliche Absicherungen vereinbaren. Vorstellbar wäre zum Beispiel, Arbeitgeber per Tarifvertrag zu verpflichten, dass sie auf ihre Kosten eine Weiterbildung anbieten, wenn eine Beschäftigung im alten Beruf im Betrieb nicht mehr möglich ist und dabei in jedem Falle auch das Entgelt gesichert ist.
Peilt die IG Metall Arbeitszeitverkürzungen an, wenn Firmen rationalisieren?
Im Moment suchen Industriefirmen dringend Arbeitskräfte. Deswegen ist das aktuell kein Thema, wobei ich hier nie nie sage. Aber zurzeit müssen wir eher drauf schauen, dass das Arbeitsvolumen gerechter verteilt wird. Dass zum Beispiel Teilzeitkräfte in Vollzeit zurückkehren können und andere Beschäftigte weniger Überstunden machen müssen. Wir haben in der vergangenen Tarifrunde ein solches Rückkehrrecht für die Beschäftigten, die heute schon in Teilzeit arbeiten, leider nicht durchgesetzt bekommen.
Im ersten Halbjahr 2019 will die IG Metall in möglichst vielen Betrieben die Arbeitgeber fragen, welche Strategien sie für die Transformation haben und was das für verschiedene Beschäftigtengruppen bedeutet. Was soll das bringen?
Aus den Angaben der Betriebe wollen wir einen Transformationsatlas erstellen, der zeigt, wo die Hotspots der Automatisierung und Veränderung in der Metall- und Elektroindustrie sind. Nehmen wir das Beispiel Künstliche Intelligenz: Wir wissen, dass damit in der Banken- und Versicherungsbranche rund ein Drittel der Jobs wegrationalisiert werden kann. Auch in der Industrie gibt es standardisierte kognitive Tätigkeiten, etwa in der Buchhaltung, im Einkauf und Vertrieb, die automatisiert werden können. Es hilft uns, wenn wir konkrete Zahlen haben, wie viele Jobs bedroht sind. Dann können wir eher Druck machen und Unternehmen und die Politik zum Handeln bewegen.
Quelle: Neues Deutschland. Das Interview erschien am 22.12.2018. Autorin: Eva Roth.