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Was bringt agiles Arbeiten?

Die Automobil- und Zulieferindustrie steht unter großem Innovationsdruck – und experimentiert deshalb auch mit neuen Formen der Arbeitsorganisation. Das kann Vorteile für die Beschäftigten haben. Vorausgesetzt, die Unternehmen machen es richtig.

6. Oktober 20176. 10. 2017


So viel Umbruch war lange nicht: Google, Uber, Tesla setzen neue Standards in der Mobilität. Selbst ein Unternehmen wie die Post mischt mit und baut Kleintransporter mit E-Antrieb. Alte Geschäftsmodelle geraten ins Wanken, Wertschöpfungsketten bilden sich neu, die Gewissheiten von gestern gelten nicht mehr.

Vor diesem Hintergrund versuchen immer mehr Unternehmen, ihre traditionellen Strukturen aufzubrechen, um schneller, flexibler und innovativer zu werden. Sie tun dies entweder, in dem sie – wie Volkswagen, Bosch und viele andere – eine Parallelwelt zu ihren bisherigen Strukturen aufbauen und zum Beispiel Innovationszentren oder einen Corporate Campus nach dem Vorbild der kalifornischen Internetriesen errichten, in denen die Regeln der alten Unternehmenswelt (Hierarchien, Anwesenheitspflicht, Büroraumgestaltung und Ähnliches) aufgehoben oder zumindest gelockert werden.

Oder sie übernehmen innovative IT oder Mobilitätsfirmen, beteiligen sich zum Beispiel an Start-ups. Manche krempeln gleich große Teile des bestehenden Unternehmens um und führen an breiter Front neue Formen der Arbeitsorganisation ein. Eine prominente Rolle spielt dabei Agilität – ein Konzept, das progressive Softwarentwicklerinnen und -entwickler spätestens seit der Formulierung des „Agilen Manifests“ (1999) kennen.


Umbau der Führungskultur notwendig

Doch nicht überall, wo heute Agilität draufsteht, ist auch wirklich Agilität drin. Für viele Unternehmen steht im Vordergrund, schneller und günstiger auf Kundenwünsche oder Marktveränderungen eingehen zu können – und darum, Produkte zu entwickeln, die eine individuelle Interaktion mit den Kunden ermöglichen. Dass dafür auch ein tiefer Umbau der Führungskultur und -strukturen sinnvoll ist, wird vielfach außer Acht gelassen.

Alle, die einmal in großen, hierarchischen Organisationen gearbeitet haben, wissen, wie viel Zeit dafür draufgeht, um auf Informationen oder Entscheidungen von Führungskräften zu warten, um Berichte zu verfassen, von denen viele dann doch nie gelesen werden, oder sich mit weltfremden Vorgaben oder Ideen von im Unternehmen wichtigen Menschen beschäftigen zu müssen. Starre Hierarchien sind Zeitfresser und Innovationskiller.


Führungskraft stellt sich in den Dienst des Teams

Echtes agiles Arbeiten setzt eine ganz andere Logik und Funktion von Führung voraus: Die Führungskraft stellt sich in den Dienst des Teams, sie hält ihm den Rücken frei, verschafft ihm die Ressourcen, die es braucht. Vorgesetzte kontrollieren nicht, sondern übertragen dem Team größtmögliche Verantwortung. Die Teammitglieder entscheiden selbst, welche Arbeitspakete sie in welchen Schritten erledigen und wie viel Zeit dafür eingeplant wird. Für die Beschäftigten, die so arbeiten wollen, birgt Agilität viele Chancen: mehr Selbstbestimmung, weniger Stress, weniger unsinnige Arbeit, schnelle Erfolgserlebnisse und ein kontinuierliches, direktes Kundenfeedback.

Deshalb kommt es darauf an, dass agile Methoden nicht halbherzig eingeführt werden, sondern dass auch die ihnen zugrunde liegenden Werte realisiert werden. Eine gute Möglichkeit, das sicherzustellen, sind Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen. Durch die Old Economy-Unternehmen im Organisationsbereich der IG Metall schwappt zurzeit eine regelrechte Agilisierungswelle, und die ersten kollektiven Regelungen dazu entstehen.


Trainer, die agile Methoden vermitteln

Bei Daimler gibt es seit diesem Jahr Betriebsvereinbarungen, die sicherstellen, dass Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die temporär in „Schwärmen“ oder „Inkubatoren“ arbeiten, von ihren Aufgaben aus ihrer Linienfunktion auch tatsächlich ohne zusätzliche Belastung der verbleibenden Teams freigestellt werden. Zudem können „Schwärme“ Trainer hinzuziehen, die die agilen Methoden erst einmal vermitteln. Wichtig war dem Betriebsrat, sowohl allen Beschäftigten den Zugang dazu zu ermöglichen, als auch das Prinzip der Freiwilligkeit zu verankern. Denn nicht alle wollen oder können agil arbeiten. In vielen anderen Unternehmen wird aktuell verhandelt.

Die Herausforderungen sind groß: Die Unternehmer drücken einerseits aufs Tempo, scheuen aber andererseits verbindliche Regelungen, sobald es um mehr Entscheidungsspielräume und Freiraum für die Beschäftigten geht oder sobald hinderliche Hierarchien in Frage gestellt werden. Ohne diese Freiräume wird aber der eigentliche Zweck der Einführung agiler Methoden verfehlt. Betriebsräte und Beschäftigte können ein langes Lied von solchen Arbeitgeber- Schildbürgerstreichen singen.

Anstatt sich an die eigene Nase zu fassen, diskutieren die Arbeitgeber lieber über das deutsche Arbeitszeitgesetz. „Um Unternehmen mehr Flexibilität und den Beschäftigten selbstbestimmtes Arbeiten, mehr Eigenverantwortung und bessere Vereinbarkeit von Berufsund Privatleben zu ermöglichen, bedarf es perspektivisch Anpassungen des Arbeitszeitgesetzes“ – zu diesem Schluss kommt zum Beispiel der Human- Resources-Kreis der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (Acatech), dem die Personalvorstände namhafter Unternehmen angehören, in einem Debattenbeitrag. Als ob Acht-Stunden-Tag, elf Stunden Ruhezeit oder das ohnehin sehr löchrige Verbot der Arbeit an Sonn- und Feiertagen der größte Hemmschuh für innovative Arbeitsbedingungen wären.


Dieser Beitrag von Vanessa Barth, Leiterin des Funktionsbereichs Zielgruppen und Gleichstellung beim Vorstand der IG Metall, ist im September 2017 im „IT-Magazin“ erschienen.

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