Hugo Sinzheimer zum 150. Geburtstag
Warum wir uns an den „Vater des Arbeitsrechts“ erinnern sollten

Ohne ihn sähe die Welt für Gewerkschaften anders aus: Vor 150 Jahren wurde Hugo Sinzheimer geboren. Er floh vor den Nazis, starb entkräftet kurz nach dem Krieg. Doch seine Ideen prägen unser Arbeitsleben bis heute.

10. April 202510. 4. 2025


Eigentlich ist es ungerecht, Hugo Sinzheimer auf einen einzigen Satz zu reduzieren. Doch weil der Satz so zeitlos und bedeutend ist, soll dieser Text damit beginnen. Es sind nur zwei Worte, kürzer kann ein Satz kaum sein: „Eigentum verpflichtet“.

So steht es bis heute im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Und so stand es bereits in der Verfassung der Weimarer Republik.

Dass der kurze Satz dort festgeschrieben wurde, ist Hugo Sinzheimer zu verdanken. Er saß für die Sozialdemokraten in der verfassungsgebenden Nationalversammlung von Weimar. Dort kämpfte er für seine Ideen zum Arbeitsrecht und zum Wirtschaftsleben allgemein. Und das mit großem Erfolg.

Neben dem Eigentumsartikel (Artikel 153) steht Sinzheimer für weitere grundlegende Prinzipien, die das Arbeitsleben in der Weimarer Republik prägten – und die bis heute in Deutschland wirken.

Beispiele dafür sind die Koalitionsfreiheit und die Tarifautonomie. Bedeutet: Beschäftigte haben das Recht, sich zusammenzuschließen und organisiert für ihre Interessen einzutreten. Was sie auf diesem Weg erreichen – etwa Tarifverträge – gilt. Es hat Rechtsstatus und wirkt wie ein Gesetz. Diese Idee war zu Sinzheimers Zeit fast revolutionär. Denn vorherrschend war damals die Auffassung, dass Recht und Gesetz nur durch den Staat, also den regulären Gesetzgeber festgelegt werden.


Gemeinsam neues Recht schaffen

Sinzheimer etablierte eine neue Idee: Nämlich das Tarifrecht. Es sorgt dafür, dass Gewerkschaftsmitglieder durch einen Tarifvertrag einklagbare Rechte erhalten – obwohl sie den Tarifvertrag ja nicht selbst abgeschlossen haben. Das erledigen die Gewerkschaften.

Bevor diese Prinzipien in der Weimarer Verfassung verankert wurden, befanden sich Arbeiter und Angestellte in einer völlig anderen Situation. Ihre Arbeitgeber konnten sich jederzeit von einem Tarifvertrag lösen. Nur permanente Streikdrohung zwang sie zur Einhaltung der Tarife. Doch Streik war im Kaiserreich riskant: Wer streikte, wurde danach oft nicht weiterbeschäftigt. Die Gerichte stützen dieses Vorgehen durch ihre Rechtsprechung.

Mit der Weimarer Republik veränderte sich die Lage fundamental. Ein Triumph für Hugo Sinzheimer, der sich zur Zeit der Republikgründung bereits seit rund 20 Jahren mit dem Thema Tarifverträge beschäftigt hatte.

In der Sinzheimer-Forschung wird der beschriebene Paradigmenwechseln auch als „kopernikanische Wende im europäischen Arbeitsrecht“ bezeichnet.

Diese Wende wirkt bis heute. Die einschlägigen Artikel im Grundgesetz entsprechen teils wörtlich den Formulierungen aus der Weimarer Verfassung. Nur dank der dort verankerten Rechte gibt es in Deutschland Gewerkschaften, wie wir sie heute kennen.

 

Porträt Hugo Sinzheimer von Carry Hess

Hugo Sinzheimer im Jahr 1911 (Foto: IG Metall/Carry Hess).


Fabrikantensohn als Sozialreformer

So bedeutend Sinzheimers Erbe ist, so unbekannt ist der Mensch Hugo Sinzheimer. Über Fachkreise hinaus dürfte seine Biografie kaum jemanden geläufig sein. Dabei spiegelt Sinzheimers Leben die ganze Dramatik der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Geboren wurde er am 12.04.1875 in Worms am Rhein als jüngstes von fünf Kindern einer Textil-Unternehmerfamilie. Die Nähe zur Arbeiterbewegung war ihm also nicht in die Wiege gelegt. Er studierte Rechtswissenschaften und Nationalökonomie und kam dabei in Kontakt mit Sozialreformern wie Lujo Brentano. Dessen Themen – zum Beispiel die Stellung von Gewerkschaften im Staat – brachten Sinzheimer auch zu praktischen Fragen: Wie können sich abhängig Beschäftigte im realen Wirtschaftsleben emanzipieren? Wie können sie zu einer eigenständigen Rolle finden, zu mehr individueller Freiheit?

Eine Antwort, die Sinzheimer auf diese Fragen gab: Bildung. So geht etwa die Gründung der Akademie der Arbeit 1921 in Frankfurt am Main auf Sinzheimers Initiative zurück. Die Akademie besteht bis heute und hat Generationen von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern weitergebildet.

Frankfurt am Main war nach dem Studium Sinzheimers Lebensmittelpunkt. Dort arbeitete er als Rechtsanwalt, vertrat Gewerkschaftsmitglieder in arbeitsrechtlichen Fällen. Als Rechtsberater war er für den Deutschen Metallarbeiterverband tätig, die Vorläufergewerkschaft der IG Metall.


Entrechtung und Exil

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten geriet Sinzheimer schnell ins Visier der neuen Staatsgewalt. 1933 kam er in Frankfurt vorübergehend in „Schutzhaft“ – ein irreführender Begriff der Nazis für die Inhaftierung politischer Gegner.

Es folgte eine Welle der Repression gegen den nun unerwünschten Juden, Sozialdemokraten und Gewerkschaftsberater: Die von Sinzheimer mitherausgegebene Zeitschrift „Arbeitsrecht“ wurde 1933 auf Druck des Reichsarbeitsministeriums eingestellt. Noch im selben Jahr entzogen die neuen Machthaber Sinzheimer die deutsche Staatsbürgerschaft, so dass er zur Emigration gezwungen war.

Über das Saarland zog er in die Niederlande, wo er im Oktober 1933 einen außerordentlichen Lehrstuhl für Rechtssoziologie erhielt.

Auch nach der Emigration versuchten die Nationalsozialisten, Sinzheimers Spuren im deutschen Arbeitsrecht zu tilgen. 1935 erschien die „Anordnung des Präsidenten der Reichsschriftkammer über schädliches und unerwünschtes Schriftgut“, worin Sinzheimers Schriften aufgeführt waren. 1937 entzog die juristische Fakultät der Universität Heidelberg Sinzheimer die Doktorwürde.

Nachdem das Deutsche Reich die Niederlande 1940 besetzt hatte, kam Sinzheimer erneut in Haft. Danach fand er bis Kriegsende Zuflucht bei holländischen Freunden.

Von den Kriegsjahren entkräftet starb Sinzheimer am 16.09.1945 in Bloemendaal in der Nähe von Haarlem. Dort liegt er auch begraben.

Seine Ideen konnten die Nationalsozialisten nur vorübergehend aufhalten. Arbeitsrecht und Tarifsystem in Deutschland tragen bis heute Sinzheimers Handschrift.


Tipp: Mehr zu Leben und Werk Hugo Sinzheimers findet ihr hier.

 

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