Am 18. März 2023 ist Professor Spiros Simitis im Alter von 88 Jahren gestorben. Sein Name wird nicht allen, vor allem den Jüngeren, etwas sagen. Nicht wenige aber assoziieren ihn mit seinem Lebensthema, dem Datenschutz.
Mit der IG Metall werden ihn nicht viele in Verbindung bringen. Er war ihr eher diskret aber umso wirksamer über Jahrzehnte hindurch wissenschaftlich und praktisch eng verbunden.
Spiros Simitis kam zusammen mit seinem Bruder Konstantin (dem späteren griechischen Ministerpräsidenten) in den 60er Jahren zum Jura-Studium nach Deutschland. Das Brüderpaar nahm parallel einen rasanten Aufstieg: Sie wurden zu den führenden Köpfen auf den beiden damals innovativsten Rechtsgebieten: Datenschutz und Verbraucherschutz.
Spiros Simitis entwickelte die Grundlagen dieses neuartigen, technologiegetriebenen Rechts und schuf 1970 mit dem hessischen Datenschutzgesetz das weltweit erste seiner Art. Folgerichtig wurde er in Hessen der erste staatliche Datenschutzbeauftragte. Der Autor Heribert Prantl schreibt in der Süddeutschen Zeitung, dass, so wie in der Elektrotechnik „Watt“ und „Volt“ zu Maßeinheiten mit den Namen ihrer Erfinder wurden, man im Datenschutz mit „Simitis“-Einheiten operieren sollte.
Der Datenschutz findet eines seiner wichtigsten Anwendungsgebiete im Arbeitsleben. Denn alle Betriebsfunktionäre, die sich heute um Arbeitnehmerschutz in IT-Angelegenheiten bemühen, stehen auf Fundamenten, die Simitis wesentlich mitgeschaffenen hat.
Innovation als Lebensaufgabe
Spiros Simitis selbst hatte neben dem Datenschutzrecht – wohl kaum zufällig – als lebenslange Hauptgebiete Familienrecht und Arbeitsrecht gewählt. Auch dort wirkte er so innovativ wie beim Datenschutz, etwa bei der Entwicklung einer „problemorientierten Mitbestimmung“.
Eine solche, auf das Zusammenspiel aller Mitbestimmungsinstitutionen zielende Beteiligungspolitik, entspricht den insbesondere auch in der IG Metall über Jahrzehnte erprobten betriebspolitischen Konzepten.
Mit solchen Ideen hätte er sich auch wiedergefunden in den aktuellen Bemühungen um mehr Arbeitnehmerbeteiligung im Transformationsprozess – wie dem Gewerkschaftsentwurf zu einem neuen Betriebsverfassungsgesetz.
Besonders effektiv geriet eine Intervention von Spiros Simitis in den von den Arbeitgebern vor das Bundesverfassungsgericht gebrachten Streit um die Verfassungsmäßigkeit des Mitbestimmungsgesetzes von 1976. Sein zusammen mit Friedrich Kübler und Walter Schmidt verfasstes sogenanntes Frankfurter Gutachten machte die entscheidenden Punkte in Karlsruhe.
Seine Aktivitäten als sozialstaatlich orientierter Arbeitsrechtler brachten Spiros Simitis zwangsläufig in engen Kontakt mit Gewerkschaften. Welche lag angesichts des Sitzes seiner Universität Frankfurt am Main näher als die IG Metall?
Zusammenarbeit mit der IG Metall
Bereits 1973 wurde sein Rat bei der Organisation einer später legendären gewordenen Veranstaltung „Streik und Aussperrung“ gesucht, die den Auftakt zu einer nie dagewesenen Kritik und Politisierung des Arbeitskampfrechts lieferte – mit dem Ergebnis einer Begrenzung der Aussperrung durch das Bundesarbeitsgerichts 1980).
Unmittelbar danach begann eine enge Zusammenarbeit von Simitis mit der IG Metall bzw. der von ihr nach dem Tode Otto Brenners ins Leben gerufenen Otto-Brenner-Stiftung (OBS), die bis in die jüngste Zeit anhielt, und mit dem von der IG Metall gegründeten Hugo-Sinzheimer-Institut für Arbeits- und Sozialrecht (HSI).
Die zentrale Klammer dieser Zusammenarbeit lieferte das Bemühen um eine zeitgenössisch aktualisierte Wiederbelebung des Gedenkens an Hugo Sinzheimer. Dieser Frankfurter Rechtsanwalt und Reichstagsabgeordnete war der „Erfinder“ des modernen Tarifvertrags und Schöpfer der Teile der Weimarer Reichsverfassung zur Arbeitsverfassung, insbesondere zu Räten und Wirtschaftsdemokratie. Er war ein langjähriger Freund und Berater des damaligen Metallarbeiterverbandes (DMV).
Die Wiederbelebung von Sinzheimers Gedanken und die Anknüpfung an die Traditionslinie zum DMV wurden für Jahrzehnte zum Gegenstand gemeinsamer Arbeit der IG Metall, ihrer Wissenschaftseinrichtungen und Spiros Simitis.
Zunächst bestritt er 1975 zusammen mit dem damaligen 1. Vorsitzenden Eugen Loderer und anderen namhaften Referenten eine Veranstaltung zum 100. Geburtstag von Hugo Sinzheimer. Im Anschluss daran lud er gemeinsam mit der OBS prominente Arbeitsrechtler aus der ganzen Welt zu einer jährlichen Hugo-Sinzheimer-Gedächtnisvorlesung ein.
Etwas später kam ein von ihm mitbetreuter regelmäßiger Hugo-Sinzheimer-Preis für die beste arbeitsrechtliche Doktorarbeit hinzu. Beide Formate werden heute vom Hugo-Sinzheimer-Institut fortgeführt, in dessen Beirat Spiros Simitis seit der Gründung des Instituts 2010 maßgeblich mitwirkte, bis ihm seine schwindende Gesundheit keine weitere Mitarbeit mehr erlaubte.
Die enge Beziehung zwischen Spiros Simitis und der IG Metall zeigte sich zuletzt anlässlich der Festveranstaltung zu seinem 80. Geburtstag: Sie fand auf seinen Wunsch, veranstaltet durch das HSI, in den Räumen der IG Metall statt – angesichts seines Weltruhms keinesfalls eine Selbstverständlichkeit, sondern ein allseits so auch begriffenes Statement der wechselseitigen Verbundenheit.
Warnstreiks: unser gutes Recht!
All das würde für sich eine ehrende Erinnerung an Spiros Simitis rechtfertigen. Es kommt aber eine Episode aus dem praktischen Kerngeschäft der IG Metall hinzu, die einerseits von fortwirkender Bedeutung für die Streikpraxis der IG Metall ist, andererseits fast vollkommen vergessen ist: Es handelt sich um einen Schiedsspruch zur Anwendung der „Schlichtungs- und Schiedsvereinbarung für die Metallindustrie“ von 1980.
Mit dieser vor über 40 Jahren neu verhandelten Fassung der Schlichtungsvereinbarung wurden verhandlungsbegleitende Warnstreiks rechtlich erstmals zweifelsfrei möglich im Hinblick auf die tarifliche Friedenspflicht. Danach billigte das Bundesarbeitsgericht die allgemeine Zulässigkeit von Warnstreiks. Seither heißt es: „Warnstreiks sind unser gutes Recht“.
Die Arbeitgeber verlangten, dass auch schon vor einem Warnstreik das Scheitern der Verhandlungen erklärt und der Schlichtungsmechanismus in Gang gesetzt werden müsse. Das hätte das Aus für Warnstreiks, wie wir sie seither kennen, bedeutet. Diese Frage konnte nur durch das von Gesamtmetall und der IG Metall eingesetzte Schiedsgericht entschieden werden. Sein Spruch lautete: Für die Durchführung gewerkschaftlicher Warnstreiks ist die förmliche Erklärung des Scheiterns der Verhandlungen nicht erforderlich.
Damit war der Weg frei für die seither erfolgreiche Warnstreik-Praxis. Der turnusgemäße Vorsitzende des Schiedsgerichts war – Spiros Simitis! Das sollte in den Reihen der IG Metall immer in Erinnerung bleiben.