Krankenstand in Deutschland
Das Märchen vom „Blaumachen“

Deutschland, ein Land der „Blaumacher“? So unterstellen es viele Arbeitgeber und Politiker. Sie behaupten, dass Beschäftigte zu wenig arbeiten und zu oft „krankfeiern“. Mit der Realität hat das wenig zu tun. Das zeigt unser Faktencheck.

9. Januar 20259. 1. 2025


Die These, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland sich oft ohne triftigen Grund krankmelden, ist nicht neu. Schon früher wurde von Arbeitgeberseite die Begründetheit von Krankmeldungen angezweifelt. Neu ist jedoch, dass die Diskussion aktuell an Schärfe zunimmt, was auch mit der bevorstehenden Bundestagswahl zu tun hat. Die Axt an die Sozialsysteme zu legen, hat derzeit Konjunktur.

Allianzchef Oliver Bäte forderte einen sogenannten Karenztag. Das bedeutet, die Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag soll gestrichen werden. Der drohende Lohnabzug soll Beschäftigte abschrecken, „blau zu machen“. In Deutschland war der sogenannte Karenztag 1970 abgeschafft worden. Die lückenlose Lohnfortzahlung im Krankheitsfall war ein großer sozialpolitischer Erfolg, für den die Gewerkschaften immer wieder kämpfen mussten. Mitte der 90er Jahre waren erneut gewerkschaftliche Proteste notwendig, um die Lohnfortzahlung gegen geplante Kürzungen der damaligen CDU-FDP-Bundesregierung zu verteidigen.

 

Faktencheck

Der hohe Krankenstand in Deutschland geht laut einer neuen Studie der DAK hauptsächlich auf die elektronische Krankmeldung (eAU) zurück. Seit deren Einführung werden Krankschreibungen zu 100 Prozent erfasst. Vor Einführung der eAU wurde die Ausfertigung für die Krankenkasse häufig gar nicht weggeschickt, sondern nur die an den Arbeitgeber. Durch die neue Erhebungsmethode wird ein einstiges Dunkelfeld besser ausgeleuchtet, was zu einem statistischen Anstieg der Zahlen führt, sagt das ZEW (Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung).

Zusätzliche Fehltage ergeben sich zudem durch verstärkte Erkältungswellen, Corona-Infektionen und eine massive Zunahme der psychischen Erkrankungen. Tatsächlich ist es so, dass viele Beschäftigte, obwohl sie krank sind, trotzdem zur Arbeit gehen. Vor der Corona-Pandemie waren rund 70 Prozent der Beschäftigten mindestens einmal pro Jahr krank bei der Arbeit, im Schnitt fast neun Arbeitstage. Seitdem dürften die Zahlen angesichts der neuen Homeoffice-Kultur eher noch gestiegen sein, schätzt die Hans-Böckler-Stiftung.

 

Beschäftigte unter Generalverdacht

Der aktuelle Vorschlag, den Karenztag wieder einzuführen, wird damit begründet, das Arbeitnehmer in Deutschland mit 20 Krankheitstagen pro Jahr „Weltmeister im Krankmelden“ seien. Vor Kurzem hatte auch Daimler-Chef Ola Källenius erklärt, es sei hierzulande zu einfach, sich krankzumelden. Die nächste Bundesregierung solle unpopuläre Entscheidungen treffen und soziale Leistungen einschränken. Alle diese Angriffe zielen auf eine Änderung des Entgeltfortzahlungsgesetzes, in dem die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfall geregelt ist.

Hans-Jürgen Urban, Vorstandsmitglied der IG Metall, lehnt den Vorschlag, Karenztage wieder einzuführen, kategorisch ab. „Den Beschäftigten Krankmacherei zu unterstellen, ist unverschämt und fatal. Wer Karenztage aus der Mottenkiste holt, greift die soziale Sicherheit an und fördert verschleppte Krankheiten. Die deutsche Wirtschaft gesundet nicht mit kranken Beschäftigten, sondern im Gegenteil mit besseren Arbeitsbedingungen.“

 

Viele gehen zur Arbeit, obwohl sie krank sind

Die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ist ein soziales Schutzrecht, das ab dem ersten Krankheitstag gilt. Nur so ist gewährleistet, dass kranke und erholungsbedürftige Beschäftigte tatsächlich gesund werden können und dass ihre Arbeitskraft langfristig erhalten bleibt. Krank bei der Arbeit zu erscheinen, ist wegen Fachkräftemangel und Personalengpässen dagegen ein branchenübergreifend weitverbreitetes Phänomen.

Verschärft wird es gegenwärtig dadurch, dass viele Beschäftigte um ihren Arbeitsplatz fürchten und deshalb arbeiten gehen, auch wenn sie besser zuhause bleiben sollten. Dabei schadet das nicht nur der eigenen Gesundheit, sondern führt auch zur Ansteckung von Kolleginnen und Kollegen. Wer krank zur Arbeit kommt, erhöht die Gefahr für Unfälle und Fehler. Das führt zu Produktivitätsverlusten, die die Unternehmen erst recht teuer zu stehen kommen.

Die Debatte ums angebliche Blaumachen geht deshalb an der Realität vorbei. Die Einführung von Karenztagen würde Menschen fürs Kranksein mit Lohnabzug bestrafen. Krank werden Beschäftigte durch schlechte Arbeitsbedingungen. Wichtigstes Gegenmittel ist die Gefährdungsbeurteilung. Um die Zahl der Erkrankungen zu senken, sollte man auf Gesundheitsmanagement und Prävention setzen und keine Scheindebatte lostreten.

 

Weitere Informationen:

Was erklärt den hohen Krankenstand in den Betrieben? WSI Kommentar Nr. 003, Oktober 2024, Hans-Böckler-Stiftung

Aktuelle Analyse: Krankenstände: Strukturelle Ursachen angehen statt riskanter Scheinlösungen, Pressedienst Hans Böckler Stiftung, 9.1.2025

Arbeits- und Gesundheitsschutz: „Es droht ein kranker Teufelskreis“ 

 

 

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