Studie zur Tarifbindung
11 Prozent mehr Geld, 54 Minuten kürzere Arbeitszeit

Beschäftigte mit Tarifvertrag haben im Schnitt 11 Prozent mehr Geld, bei 54 Minuten kürzere Wochenarbeitszeit. Das zeigt eine aktuelle Studie des WSI. Allerdings haben nur noch 52 Prozent der Beschäftigten in Deutschland einen Tarifvertrag. Besonders krass ist der Unterschied im Osten.

19. April 202319. 4. 2023


Betriebe mit Tarifvertrag bieten deutliche bessere Arbeitsbedingungen als vergleichbare Betriebe ohne Tarifbindung. Vollzeitbeschäftigte mit Tarif verdienen durchschnittlich 11 Prozent mehr und arbeiten dafür 54 Minuten weniger in der Woche als Beschäftigte in vergleichbaren Betrieben ohne Tarif. Das zeigt eine neue Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung des DGB.

Die Studie zeigt aber auch, dass die Tarifbindung abnimmt: Während im Jahr 2000 noch mehr 68 Prozent der Beschäftigten in Deutschland in tarifgebundenen Betrieben beschäftigt waren, hatten 2021 nur noch bei 52 Prozent einen Tarif.

Der deutliche Rückgang der Tarifbindung seit der Jahrtausendwende hatte messbar negative Konsequenzen für die Beschäftigten und die Kaufkraft breiter Bevölkerungsschichten. Indirekt wirkt sich das auch auf die Einnahmen des Staats und der Sozialversicherungen aus.

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Besonders krasse Unterschiede im Osten

Dabei gibt es ein deutliches West-Ost-Gefälle: Im Osten hat deutlich weniger als die Hälfte der Beschäftigten einen Tarif. Und die Löhne ohne Tarif sind noch deutlich niedriger. In Brandenburg verdienen Beschäftigte in tariflosen Betrieben rund 15 Prozent weniger als jene in vergleichbaren Betrieben mit Tarifvertrag, in Sachsen-Anhalt beträgt der Rückstand 14 Prozent. Um auf ein volles Jahresgehalt vergleichbarer Beschäftigter mit Tarifvertrag zu kommen, müssen Beschäftigte in tariflosen Betrieben hier also bis in den März des Folgejahres hineinarbeiten.
 

Eine Woche weniger im Jahr arbeiten

Bei der Arbeitszeit sind hingen die die Unterschiede in Westdeutschland besonders eklatant. Die Gewerkschaften und insbesondere die IG Metall haben hier bereits in den 1980er und frühen 1990er Jahren deutliche Arbeitszeitverkürzungen durchsetzen können, die jedoch nur in tarifgebundenen Betrieben gelten. Am größten ist die Differenz in Baden-Württemberg, wo Vollzeitbeschäftigte in tariflosen Unternehmen regulär fast anderthalb Stunden (87 Minuten) pro Woche zusätzlich arbeiten. In Bremen (61 Minuten) und dem Saarland (60 Minuten) sind es jeweils etwa eine Stunde. Über das Jahr gesehen entspricht dies mehr als einer zusätzlichen Arbeitswoche.
 

Besser mit Tarif – attraktiver für Fachkräfte

„Die Ergebnisse belegen erneut, dass Tarifverträge für die Beschäftigten handfeste Vorteile bringen“, erklärt WSI-Forscher Malte Lübker, Koautor der Studie. „Es lohnt sich deshalb, gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen für einen Tarifvertrag zu kämpfen – auch wenn der Weg dahin oft nicht einfach ist.“

Allerdings mache der sich verschärfenden Fachkräftemangel Tarifverträge auch für Arbeitgeber zunehmend attraktiv. „Wer als Arbeitgeber tarifgebunden ist, bekennt sich klar zu fairen Löhnen und geregelten Arbeitsbedingungen“, meint Lübker. „Das macht einen Arbeitgeber für Stellensuchende interessant – und kann die Belegschaft davon abhalten, zur tariftreuen Konkurrenz abzuwandern.“
 

Deutschland hinkt 80-Prozent-Ziel der EU hinterher

Doch auch die Politik muss für mehr Tarifbindung sorgen. In Belgien, Österreich und Frankreich ist werden deutlich über 90 Prozent der Beschäftigten nach einem Tarifvertrag bezahlt. Diese Länder erfüllen damit schon eine tarifvertragliche Abdeckung von mindestens 80 Prozent, die in der neuen Europäischen Mindestlohnrichtlinie als Ziel festgelegt ist. Alle anderen EU-Länder – darunter auch Deutschland – sind nach europäischem Recht künftig verpflichtet, einen Aktionsplan mit konkreten Maßnahmen zur schrittweisen Erhöhung der tarifvertraglichen Abdeckung aufzustellen.

Aufgrund der zweijährigen Frist für die Umsetzung der Richtlinie hat Deutschland hierfür bis zum 15. November 2024 Zeit. „So lange sollte die Bundesregierung aber nicht warten. Viele konkrete Maßnahmen, die dieser Aktionsplan enthalten könnte, werden bereits seit einiger Zeit diskutiert“, sagt Lübker.

Zu den Maßnahmen zählen:

1. eine weitere Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung von bestehenden Tarifverträgen – das heißt, die Politik erklärt einen Tarifvertrag zur gesetzlichen Untergrenze. Das gibt es beispielsweise in der Leiharbeit.

2. Tariftreueregelungen bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen. Das heißt, Aufträge vom Bund, vom Land, von der Kommune gehen nur noch Betriebe mit Tarif. Das gab es schon einmal vermehrt in den Ländern, wurde jedoch oft auf Betrieben der FDP wieder gekippt. Im Koalitionsplan der Ampel-Koalition ist jetzt immerhin eine neue Bundestariftreueregelung vereinbart.

Weitere Vorschläge finden sich in einem Eckpunktepapier, das Arbeitsminister Hubertus Heil und Bundeskanzler Olaf Scholz bereits im März 2021 vorgelegt haben. Hierzu zählt ein bundesweiter Vergabemindestlohn, der für tariftreue Betriebe zusätzlich Schutz vor „Schmutzkonkurrenz“ mit Dumpinglöhnen schaffen würde.

Die komplette WSI-Studie findet Ihr hier.

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