Interview mit Imke Müller-Hellmann
300 Boxershorts in einer Stunde nähen

Bei der Recherche für ihr Buch, das Textilien bis zum Entstehungsort zurückverfolgt, sprach Imke Müller-Hellmann weltweit mit Frauen, die Kleider nähen. Sie kritisiert ein Wirtschaftssystem, das Profit an erste Stelle setzt.

6. März 20186. 3. 2018


Frau Müller-Hellmann, Ihr Buch „Leute machen Kleider“ ist eine Reise durch die globale Textilindustrie. Sie wollten wissen, wie Ihre Lieblingskleidungsstücke eine Fleecejacke, ein Slip und Wandersocken entstanden sind und wer sie gemacht hat. Wie waren die Reaktionen auf Ihre Anfragen?

Imke Müller-Hellmann: Sehr unterschiedlich. Einige fanden mein Anliegen kurios, andere wollten mir nicht sagen, wer ihre Zulieferer sind, und erklärten, dies sei ein Geschäftsgeheimnis. Es gab Firmen, die mir nie geantwortet haben, und Firmen, die mein Anliegen sympathisch fanden und mir weiter halfen.

Worauf sind Sie bei Ihren Recherchen gestoßen?

Ich habe ordentliche und sehr beengende Fabrikräume gesehen, in denen Arbeiterinnen monotone und hoch verdichtete Arbeit verrichten. In Bangladesch und China ist es normal, dass neben Arbeiten und Schlafen keine Zeit mehr bleibt. In China befinden sich die Wohnheime oft auf dem Gelände oder in unmittelbarer Nähe der Fabrik, mehrere Frauen teilen sich ein Zimmer. Wenn eine Frau ein Kind hat, wächst dieses bei den Großeltern auf, die oft auf dem Land leben, weit entfernt.

Wovon träumt die Näherin in Bangladesch, die mindestens zwölf Stunden am Tag unter Neonlicht näht? Wie hält man diesen Knochenjob sechs Tage die Woche durch?

Bei allen Chinesinnen, mit denen ich sprach, war an ein Leben neben der Arbeit nicht mehr zu denken. In Bangladesch hoffen die Frauen, dass ihnen der freie Freitag nicht auch noch gestrichen wird, weil ein Auftrag fertiggestellt werden muss. Das kommt nämlich immer wieder vor. Auch, dass die Löhne verspätet oder manchmal gar nicht gezahlt werden. Die Beschäftigten vor Ort sind extremer Willkür ausgesetzt.

Nochmal zurück zur Lage chinesischer Wanderarbeiterinnen. Was haben sie für Perspektiven?

Viele träumen davon, nach ein paar Jahren genug gespart zu haben, um in der Heimat ein Haus bauen zu können und sich eine Existenz sichern zu können. Bis es soweit ist, sind die Wanderarbeiterinnen oft stolz darauf, dass sie Geld nach Hause schicken können. Das wertet ihre Stellung in der Familie enorm auf.

Das klingt ja sehr positiv. Was ist mit der Kehrseite der Medaille?

Die Kehrseite sind viele Jahre monotone Arbeit, die die Gesundheit belastet und das soziale Leben miteinander unmöglich macht. In der Textilbranche zu arbeiten heißt, sehr hart zu arbeiten, und es gibt in China nicht das Recht, zu streiken oder sich gewerkschaftlich unabhängig zu organisieren. So ist es verständlich, dass viele Frauen keine Idee davon haben, dass Arbeit auch anders organisiert werden könnte und sie zum Beispiel pro Stunde und nicht pro Stück bezahlt werden. Näherinnen erzählten mir, dass sie natürlich keine Pause machten, um auf eine höhere Stückzahl und somit einen höheren Lohn zu kommen. Ich habe Näherinnen getroffen, die 300 Boxershorts in der Stunde schaffen und darauf sehr stolz sind.

Was sind die Ursachen für den hohen Arbeitsdruck und die schlechte Bezahlung?

Die sind vielschichtig. Abgesehen von den Mechanismen des Kapitalismus, der einen höheren Mehrwert aus den Arbeiterinnen herauspressen will, ist der Zeitdruck der Textilkonzerne immens – Stichwort „Fast Fashion“ – und wird an die kleinsten Rädchen im System weitergegeben. Die Näherin in Hanoi, Dhaka oder Dongguan hat wenig Handhabe, ihre Rechte durchzusetzen. Regelungen zu den Arbeitsbedingungen gibt es zwar, werden in der Praxis aber oft unterlaufen. Es soll immer schnell und günstig sein. Gute Arbeit aber hat ihren Preis.

Wehren sich die Beschäftigten?

Manche ja, zum Beispiel in Bangladesch. Die Textilgewerkschaft NGWF – National Garment Workers Federation – in Dhaka unterstützt und berät seit Jahrzehnten Frauen und Männer in der Textilbranche und versucht, eine breite Organisierung der Textilarbeiterinnen auf die Beine zu stellen. Das ist sehr schwer, denn die Arbeitsbedingungen sind prekär und alle haben Angst, ihren Job zu verlieren. Wir müssen die NGWF von außen mit stark machen. Wir müssen uns solidarisieren. Man kann dies zum Beispiel über die Solidaritätsfonds des Vereins FEMNET in Bonn tun.

Was muss sich ändern, damit sich die Lage der Textilarbeiterinnen bessert?

Textilarbeiterinnen brauchen nicht nur einen höheren Mindestlohn, sie brauchen einen existenzsichernden Lohn, Living Wage genannt, der für Essen, Miete, Schulgeld und Rücklagen reicht. Die gewerkschaftlichen Strukturen vor Ort müssen gestärkt werden, denn wer sonst sollte vor Ort den Druck aufbauen können, um die Verteilungskämpfe zu führen? Wir als Käufer sollten überdies die Marken unterstützen, die auf die Arbeitsbedingungen bei den Zulieferern achten. Dazu zählen alle Marken, die sich der Fair Wear Foundation angeschlossen haben. Sich diese Marken einzuprägen ist ein guter Anfang. Aber fairer Konsum allein kann den Wahnsinn nicht stoppen. Wir müssen größer denken.

Zum Beispiel? Was wäre wichtig?

Es gibt Kontrollwerte für Chemie in Kleidung, die in die EU geliefert werden. Warum nicht auch Kontrollwerte für die Arbeitsbedingungen? Das hieße, auf nationaler Ebene Druck aufzubauen, um zum Beispiel das Bündnis für nachhaltige Textilien vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu stärken. Und noch etwas größer gedacht: Es muss Schluss sein mit einer Wirtschaft, die den Profit an erste Stelle setzt. Wir brauchen ein Wirtschaftssystem, in der der Mensch und die Umwelt das Wichtigste sind.

Das Buch „Leute machen Kleider“ von Imke Müller-Hellmann ist 2017 im Osburg Verlag in Hamburg für 20 Euro erschienen.

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