„Europa neu begründen“, so formulierte Emmanuel Macron seinen Anspruch gegenüber Studenten der Goethe Universität am Rande der Buchmesse in Frankfurt. Das ist dringlicher denn je, denn die Krisen Europas sind keineswegs überwunden. Der Brexit steht bevor. In Spanien herrscht eine veritable Staatskrise. Hinter Österreichs politischer Zukunft steht ein großes Fragezeichen. Der europapolitische Kurs von „Jamaika“ lässt sich noch nicht absehen. Und: Überall sind Rechtspopulisten und Nationalisten auf dem Vormarsch. In Ungarn und Polen führen sie die Regierung.
Mit Blick auf die ökonomische Entwicklung Europas sind erste Anzeichen einer Erholung erkennbar. Im Mittelpunkt muss aber der Kampf gegen Ungleichheiten stehen. Sonst verfestigt sich die politische und soziale Krise. Europa funktioniert bisher vor allem als gemeinsamer Wirtschaftsraum. Für wen, möchte man fragen? Denn Wohlstandsgewinne bringen uns dann nicht weiter, wenn die Verteilungsfrage nicht gestellt und beantwortet wird. Dafür braucht es starke Gewerkschaften und eine neue Mitbestimmungskultur in Europa. Die Demontage der Tarifvertragssysteme muss zurückgenommen werden. Das ist wesentliche Voraussetzung für eine wirtschaftliche und politische Erholung und damit ein Schlüssel im Kampf gegen Rechtspopulismus.
Europa braucht eine Strategie, die diesen Namen verdient
Die IG Metall fordert deshalb einen Kurswechsel in der europäischen Politik. Weg vom verordneten Sparzwang hin zu verstärkten Investitionen in Europa. In seine Infrastruktur, vor allem aber in seine Menschen. Die Kommission veröffentlichte Mitte September eine Mitteilung mit dem vielversprechenden Titel „Investitionen in eine intelligente, innovative und nachhaltige Industrie. Eine neue Strategie für die Industriepolitik der EU“. Das klingt nach dem strategischen Gesamtkonzept, auf das die Gewerkschaften schon seit Jahren pochen und das auch das Europäische Parlament einforderte.
Doch der Inhalt enttäuscht. Von einer „neuen Strategie“ kann kaum die Rede sein. Die Mitteilung ist nicht mehr als eine Auflistung bereits ergriffener oder geplanter wirtschaftspolitischer Maßnahmen. Europa braucht eine Industrie- und Investitionsstrategie, die diesen Namen auch verdient. Der erste Schritt wären größere Handlungsspielräume zugunsten staatlicher Investitionen („Goldene Regel“). Darüber hinaus bedarf es ambitionierter und verbindlicher Ziele sowie einer industriepolitischen Roadmap zu Digitalisierung, Energiewende und Klimapolitik oder der Mobilität der Zukunft.
Denn: Die EU hat nur mit der Innovationskraft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Chance, die Standards für eine soziale, ökologische und demokratisch gestaltete Transformation in die Gesellschaft und Arbeitswelt von morgen zu setzen. Für die IG Metall bedeutet das: Die Schutz- und Gestaltungsinteressen der Beschäftigten müssen vor den Binnenmarktinteressen stehen. Ein Ansatzpunkt hierzu könnte die Einführung von Fachkammern für Arbeits- und Sozialrecht beim Europäischen Gerichtshof sein.
Ein europäische Säule sozialer Rechte
Der Kommissionspräsident hat jüngst die Einrichtung einer europäischen „Arbeitsbehörde“ vorgeschlagen, um geltende Arbeits- und Sozialstandards wirksam durchzusetzen. Zu Recht weist Juncker darauf hin, dass es in Europa keine „Arbeitnehmer zweiter Klasse“ geben dürfe. Die Mitgliedstaaten sind jetzt aufgefordert, sich spätestens im November beim Gipfel in Göteborg, auf eine europäische Säule sozialer Rechte zu einigen.
So weit so gut. Aber erst dann, wenn eine solche Institution auf Augenhöhe mit anderen Machtzentren der EU, wie zum Beispiel der Europäischen Zentralbank, arbeiten könnte, würde sie die notwendige Kraft entfalten. Nicht als bürokratische Hülle, sondern mit einer klaren Struktur und einem klaren Auftrag, Lohndumping zu verhindern und das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ durchzusetzen.
Am vergangenen Montag hat das Europäische Parlament eine Reform der Entsenderichtlinie auf den Weg gebracht. Ein wichtiger Schritt, den wir sehr begrüßen. Es liegt nun an den nationalen Regierungen, dass diese Reform nicht verwässert oder gar verhindert wird. Die Reform der Entsenderichtlinie ist zentraler Bestandteil von Emmanuel Macrons Agenda für Europa. Dabei macht ein Macron noch keinen Frühling. Der als Hoffnungsträger gefeierte Wahlsieger gegen den dumpfen Nationalismus des Front National, stutzt zuhause das Arbeitsrecht so zurecht, dass es kompatibel zu den neoliberalen Heilslehren ist, die das europäische Projekt gerade bei vielen Beschäftigten in Verruf gebracht haben.
Was wir aber brauchen, ist ein kooperatives Modell Europas, das auf die Ausweitung der Mitbestimmung in Europa setzt, der reinen Wettbewerbslogik entgegentritt und sozialen und ökologischen Ausgleich nicht als Hindernis sondern als Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft ansieht. So kann, so muss das Europa der Zukunft aussehen
Wolfgang Lemb ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall.
Der Namensbeitrag von Wolfgang Lemb ist am 19.10.2017 in der Frankfurter Rundschau erschienen.