Sozialstaat 4.0: Interview mit Jörg Hofmann
Sicher, gerecht, selbstbestimmt

Gesellschaft und Arbeitswelt verändern sich immer schneller. Damit niemand auf der Strecke bleibt, braucht es einen Sozialstaat, der mit dem Wandel Schritt hält. Im Interview erklärt Jörg Hofmann, Erster Vorsitzender der IG Metall, was sich ändern muss.

26. September 201626. 9. 2016


Globalisierung und Digitalisierung verändern die Arbeits- und Lebensbedingungen. Wer gewinnt dabei? Wer verliert?

Jörg Hofmann: Das entscheiden wir mit, das können wir nicht dem Markt überlassen. Bei der Digitalisierung müssen wir die Beschäftigten rechtzeitig darauf vorbereiten, ihre Kompetenzen anzupassen; teilweise sich grundsätzlich beruflich neu zu orientieren. Und wir müssen strukturellen Wandel mitgestalten, Sicherheiten durchsetzen, damit niemand auf der Strecke bleibt. Das ist klassische Gewerkschaftsarbeit. Allerdings verändert sich alles immer schneller.


Wie muss sich Gewerkschaft verändern, wenn der Wandel schneller wird?

Wir müssen stärker werden und dazu gibt es ein erfolgreiches Mittel: die Beschäftigten beteiligen. Das ist das A und O.


Gibt es angesichts einer Rekordbeschäftigung nicht mehr Gewinner als Verlierer?

Das Bild ist widersprüchlich. Ja, wir haben die höchste Beschäftigungsquote, aber wir haben auch die höchste Zahl an Beschäftigten mit Niedriglohn. Wir haben einerseits gute Lohnzuwächse und andererseits geht die Schere zwischen den Einkommen immer weiter auseinander.


Was erwartet die IG Metall von der Politik, damit globale und technische Veränderungen möglichst keine Verlierer hinterlassen?

Ein Sozialstaat, der mit den Entwicklungen Schritt hält, muss allen Menschen drei Dinge garantieren: Sicherheit, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung. Dies muss auch in der digitalen Arbeitswelt eingelöst werden. So darf der Verlust des Arbeitsplatzes nicht gleichbedeutend sein mit dem Verlust des sozialen Status, der meist durch Bildungsanstrengung erworben ist. Erhalt und Fortentwicklung der Qualifikation ist gefordert, nicht Vermittlung in Arbeit, egal welche. Wir müssen darüber reden, was in diesem Fall zumutbar heißt. Auch im digitalen Wandel brauchen die Menschen Sicherheit. Als IG Metall schaffen wir Sicherheit mit unseren Tarifverträgen. Der Gesetzgeber kann uns unterstützen. Beispiel: Aufstockungsbeträge etwa bei der Bildungsteilzeit können steuerlich begünstigt werden. Und wir müssen über die Weiterentwicklung der Arbeitslosenversicherung in Richtung einer Arbeitsversicherung nachdenken. 


Wie kann die Politik auch in anderen Problemlagen mehr Sicherheit geben?

Auf vielen Ebenen. Ob es um Möglichkeiten geht, Kinder und Arbeit so zu vereinbaren, dass Erwerbsbiographien nicht unterbrochen werden müssen. Etwa durch eine schlaue Kombination tariflicher Modelle zeitweiser Arbeitszeitverkürzung mit  staatlichen Transferzahlungen oder  Steuervorteilen. Aber natürlich auch durch ausreichende Infrastruktur in Ganztagesbetreuung.

Und nicht zuletzt wollen Beschäftigte sicher sein, dass sie von ihrer Rente leben können. Dafür braucht es einen Kurswechsel in der Rentenpolitik. Das weitere Absinken des Rentenniveaus muss gestoppt und langfristig erhöht werden. Die betriebliche Altersvorsorge muss als verpflichtende Zusatzversorgung ausgebaut werden. Die Sicherheit, nicht in Altersarmut zu fallen, sondern auch Lebensqualität im Alter zu erhalten, zählt hoch bei den Beschäftigten.


Reicht dies aus um Altersarmut zu verhindern?

Nein, denn Beschäftigte, die häufig unterbrochene Erwerbsbiographien haben, oder im Niedriglohnsektor arbeiten, werden auch dann vor Armut im Alter bedroht sein. Um hier gegenzusteuern, müssen sich wieder mehr Betriebe an Tarifverträge halten. Hier setzen wir an und haben auch schon einiges erreicht. Allein in den letzten Monaten haben wir über 60 Betriebe in den Tarifvertrag geholt. Tarifbindung ist die Gerechtigkeitsfrage Nummer 1!


Braucht es auch mehr Schutz, damit Arbeitszeiten nicht ausufern?

Bei der Arbeitszeit sagen die Arbeitgeber im Moment: Weg mit allen Regeln. Wir sagen, wir müssen die Regeln anpassen. Dafür sind Tarifverträge das richtige Instrument. Es braucht ein Recht auf Abschalten. Und dies ist heute durch die Ruhezeit im Arbeitszeitgesetz definiert. Auch hier gilt: Nicht weniger Regeln, sondern wirksame Schutzregeln für die Arbeitswelt von Morgen sind gefragt.


Was passiert, wenn der Sozialstaat sich nicht im gleichen Tempo wie technischer und gesellschaftlicher Wandel entwickelt?

Das gefährdet den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Langfristig würde eine solche Entwicklung viele Menschen ausgrenzen. Wirtschaftlich, weil sie ihren Lebensstandard immer weiter runterfahren müssen. Menschlich, weil sie scheinbar nicht gebraucht werden und ihre Talente nicht einsetzen können. Letztendlich werden sie anfälliger für populistische Parolen.


Was kann die IG Metall tun?

In der Arbeitswelt leben wir Solidarität über den Betrieb hinaus. Wir setzen uns für die Rechte von Leihbeschäftigten ein und schließen Tarifverträge für Beschäftigte in Betrieben, die bisher ohne Tarifvertrag waren. Die Stärkung der Tarifbindung und Mitbestimmung sind wichtige Eckpfeiler des Sozialstaats. Unsere Aufgabe ist es, gemeinsam mit den Beschäftigten, unseren Mitgliedern, Lösungen zu suchen. Wir laden bewusst ein Jahr vor der Bundestagswahl zum Sozialstaatskongress Ende des Monats in Berlin ein. Dort wollen wir die Probleme diskutieren und Lösungen vorschlagen.


Was muss aus Sicht der IG Metall erhalten bleiben?

Das Kernversprechen, dass der Sozialstaat die Menschen vor Lebensrisiken schützt und allen die gleiche Teilhabe verspricht. Ohne Gewerkschaften, die darauf drängen, dass der Staat dieses Versprechen einlöst, wird es das aber auch in Zukunft nicht gehen. 

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